Literaturwissenschaft. Begriffe - Verfahren - Arbeitstechniken
Lesen ist ein Entdecken. Wir identifizieren Punkte auf Papierseiten oder Pixel auf einem Bildschirm als Buchstaben, fügen sie zu Worten und Sätzen zusammen und erschließen Welten. Diese Welten sind grenzenlos. Sie reichen von Schöpfungsgeschichten bis zu wissenschaftlichen Erklärungen des Atomaufbaus, von philosophischen Dialogen bis zu Theorien sozialer Systeme, von intimen Bekenntnissen bis zu den Abenteuern von Zauberlehrlingen. Die materiale Grundlage dieser Welten sind Zeichen, die sich zu Zeichenkomplexen verbinden; die Voraussetzung zum Eintritt in sie ist die Fähigkeit, Zeichen zu erkennen und ihnen Bedeutungen zuzuweisen.
Das Erkennen wie das Erzeugen sprachlicher Zeichen erlernen wir frühzeitig. In den ersten drei Lebensjahren erwerben wir die Fertigkeit, Laute und Lautverbindungen als Worte und Satzeinheiten zu verstehen und selbst hervorzubringen. In der Grundschule entziffern wir Buchstaben, Wörter, Sätze und reproduzieren sie in Schreib und Druckschrift. Mit den Kulturtechniken Lesen und Schreiben ausgestattet, lassen wir historisch zurückliegende Ereignisse in ihrer überlieferten Darstellung lebendig werden. Wir nehmen die in Texten bewahrten Erfahrungen vorangegangener Generationen auf, rekonstruieren Wissensansprüche, lernen fremde Kulturen kennen. Vor allem aber tauchen wir in eine Welt ein, deren Faszination unvergleichlich und seit Jahrhunderten wirksam ist: die Welt der (schönen) Literatur.
Diese Literatur ist ein besonderer Bereich jener Welt aus Zeichen, die wir verstehen, indem wir ihnen Bedeutung(en) zuweisen. Entlastet vom Alltagsdruck und Forderungen nach pragmatischer Verständigung, setzen literarische Texte unsere Einbildungskraft frei und erlauben – unabhängig davon, ob wir ihre Manifestationen lesen oder hören – die temporäre Aufhebung der Grenzen unserer empirischen Existenz. Lesend leiden wir mit Goethes Werther, verwirren uns mit Musils Zögling Törleß, erwarten mit Kafkas Josef K. den entscheidenden Prozess. Mit klopfendem Herzen galoppieren wir unter nebelbekleideter Eiche zur wartenden Geliebten (auch wenn wir als empirische Leser gar nicht reiten können). Wir lassen uns durch einen Torso Apollos ansehen und erfahren mit dem lyrischen Ich, dass wir unser Leben ändern müssen.
Diese Erweiterung unserer begrenzten empirischen Existenz ist aber nur ein Aspekt unter den vielfältigen Dimensionen literarischer Texte. Als Zeichenkomplexe, die sprachliche Bilder und mehrfach deutbare Ausdrücke verwenden, können die ihnen zuschreibbaren Bedeutungen verschieden ausfallen und unterschiedliche Auslegungen erlauben – ohne deshalb der Willkür eines Interpreten und seinen subjektiven Gefühlen ausgeliefert zu sein. Als Werke, die sich durch Befolgung spezifischer Regeln oder durch Abweichung von Normen der alltäglichen Umgangssprache unterscheiden, richten sie die Aufmerksamkeit auf ihre besondere Gestaltungsweise und damit auf die ästhetischen Qualitäten von Sprache überhaupt. Als Darstellungen von Handlungsweisen und Emotionen lassen literarische Texte immer auch Rückschlüsse auf individuelle wie auf gesellschaftliche Deutungs und Wertungsmuster zu. Sie vermitteln vielfältige Einsichten in das kulturelle Wissen ihrer Entstehungszeit und tragen so zur Beantwortung mentalitätsgeschichtlicher, sozialhistorischer und wissensgeschichtlicher Fragen bei.

Das Lesen und Verstehen und Interpretieren literarischer Texte ist aber ebenso wie der Umgang mit Begriffen wie Autor, literarische Generation oder Literaturepoche nicht ohne eine fundierte Einführung in Termini und Verfahren zu erlernen. Zu deren Aneignung und Erprobung möchte das vorliegende Studienbuch beitragen. Es soll den an Literatur und ästhetischer Kommunikation interessierten Studierenden philologischer Disziplinen helfen, produktive Umgangsformen mit Texten und Kontexten zu entwickeln – indem es zeigt, wie und mit welchen Einsichten literarische Werke beobachtet und beschrieben, interpretiert und historisch eingeordnet werden können.
Leitend dafür ist die Überzeugung, dass Studierende (wie Lehrende) der Literaturwissenschaft ein sicheres konzeptionelles und methodologisches Fundament benötigen. Denn nur mit klaren Begriffen und adäquaten Methoden lassen sich nachvollziehbare Beobachtungen anstellen und anschlussfähige Aussagen treffen. Zudem erfordert gerade auch das philologische Studium fundierte Arbeitstechniken und wissenschaftliche Standards. Und nur durch effektive Umgangsweisen mit Texten und Kontexten, mit Bibliotheksbeständen und Internetangeboten werden überzeugende Seminarreferate und Hausarbeiten sowie erfolgreiche Examensleistungen möglich.
Auf der Basis dieser Überzeugungen möchte dieses Studienbuch vor allem Studienanfängern grundlegende Konzepte und Methoden der Literaturwissenschaft vermitteln und zugleich mit den Techniken der philologischen Arbeit vertraut machen. Ausgewählte Textbeispiele aus dem Werk Johann Wolfgang Goethes sowie anderer Autoren bilden das Material, um zentrale Fragen nach den grundlegenden Kategorien im systematischen und historischen Umgang mit Texten entfalten und beantworten zu können: Was ist ein literarischer Text, und was heißt es, ihn zu lesen, zu verstehen und zu interpretieren? Wie lassen sich Gattungen bestimmen und in ihren Funktionsprinzipien erklären? Was ist ein Autor, und welche konstruktiven Schritte sind notwendig, um ihn und sein Werk einer literaturgeschichtlichen Epoche zuzuordnen? Schließlich sind weitergehende Fragen zu klären: Worauf beruhen die emotionalen Wirkungen von Literatur? Welche Wissensbestände werden in literarischen Texten dargestellt und problematisiert – und wie lassen sie sich rekonstruieren? Was verraten literarische Werke über ihre gesellschaftlichen Umwelten – und wie gehen wissenschaftliche Beobachtungen mit diesen Aussagen um?
Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen hat die Literaturwissenschaft zahlreiche Ansätze entwickelt. Die hier unternommene Darstellung der wichtigsten Konzepte und Verfahren orientiert sich an den Beständen einer traditionsreichen Philologie wie an den Theorieangeboten einer innovativen Disziplin, die nach intensiven Diskussionen um ihre kulturwissenschaftliche Erweiterung sich nun wieder ihrer philologischen Grundlagen vergewissert und mediale Konditionen des Literarischen ebenso erforscht wie die Raum und Zeitverhältnisse fiktionaler Welten. Dabei besteht die Zielstellung dieses Studienbuches vor allem darin, ein anwendbares und anschlussfähiges Wissen zu vermitteln, das die Grundlage für einen produktiven Umgang mit Texten und zugleich auch für das Verständnis weiterreichender Theorien bildet. Von einfachen Begriffen und Verfahren ausgehend, werden schrittweise komplexere Konzepte und Verfahren eingeführt und erläutert. Das Prinzip des Aufstiegs von elementaren zu komplexeren Einheiten ist für den systematischen wie für den historischen Abschnitt verbindlich. Informiert der erste Teil über den literarischen Text, die Gattungseinteilung sowie die Analyse und Interpretation narrativer, lyrischer, dramatischer und pragmatischer Texte, widmet sich der zweite Teil der Beschreibung des Literatursystems in seiner historischen Entwicklung und behandelt neben Begriffen wie ‚Autor‘, ‚literarische Generation‘ und ‚literarische Kommunikation‘ auch die Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft. Einbezogen werden zudem die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und medialen bzw. medientechnischen Entwicklungen sowie die wichtigen Fragen nach dem Wissen der Literatur.
Die im dritten Teil erläuterten Arbeitstechniken rücken die für ein ertragreiches Studium unabdingbaren Praktiken der Literaturwissenschaft ins Zentrum. In den Kapiteln „Lesen und Recherchieren“, „Reden“ und „Schreiben“ geht es zum einen um Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Aneignung literaturwissenschaftlichen Wissens, zum anderen um Regeln und Normen für ein überzeugendes Präsentieren der erworbenen Kenntnisse. Das Kapitel „Lesen und Recherchieren“ gibt Hinweise für die grundlegende Arbeitsform des Philologen, der seine Liebe zum Wort ja sogar in seine Berufsbezeichnung eingeschrieben hat. Es erläutert Techniken der Lektüre, insbesondere des genauen Lesens; und es zeigt, wie Primärquellen und Sekundärliteratur zu recherchieren sind und welche Hilfe unterschiedliche Bibliographien und Kataloge, Datenbanken und Referenzwerke bieten. Die Kapitel „Reden“ und „Schreiben“ unterstützen die Anfertigung von Seminarreferaten und schriftlichen Hausarbeiten. Dazu listen sie Schritte auf, die von der Formulierung eines Themas über die Anlage einer Gliederung bis zu einem gelungenen Vortrag und einer überzeugenden Hausarbeit führen. Besonderer Wert wird in diesem Zusammenhang philologischen Standards zugemessen, die den intersubjektiven Nachvollzug des gewonnenen Wissens gewährleisten sollen. Denn Literaturwissenschaft bleibt, auch wenn die primären Gegenstände ihres Erkenntnisinteresses Werke der Kunst sind, eine Wissenschaft – und muss sich also durch methodisch gewonnene Aussagen und argumentative Begründungen ebenso legitimieren wie durch die Überprüfbarkeit und prinzipielle Falsifizierbarkeit ihrer Geltungsansprüche.
Dass mit den vorgestellten Begriffen, Verfahren und Arbeitstechniken kein Anspruch auf Vollständigkeit und überzeitliche Geltung verbunden ist, muss nicht eigens betont werden. Im Mittelpunkt stehen regelgeleitete Umgangsformen mit Texten und Kontexten in historischen Konstellationen, die zusammenhängend vorgestellt und demonstriert werden. Auf diese Weise wird die Fruchtbarkeit von Konzepten und Methoden bei der Arbeit an Texten und historischen Konstellationen anschaulich und erfahrbar. Und damit wird auch klar, warum es sich lohnt, Begriffe und Verfahren zu erlernen und anzuwenden. So soll dieses Lehrbuch jene Orientierungen vermitteln, die eigenständige Fragen und Antworten ermöglichen – und dazu ermuntern, die faszinierende Welt der Literatur immer weiter und genauer zu erschließen.
Die aktualisierte und erweiterte Neuauflage dieser in der Praxis bewährten Einführung berücksichtigt nicht nur die Anforderungen modularisierter Studiengänge, deren Absolventen bei verknappten Zeitressourcen eine fundierte Darstellung von Konzepten und Verfahren für produktive Textumgangsformen benötigen. Sie reflektiert zugleich neue wissenschaftliche Einsätze zu den Verhältnissen von Literatur und Medien oder zum Beziehungsfeld von Literatur und Wissen. Sie bezieht neuere fiktionalitäts und gattungstheoretische Reflexionen ebenso ein wie Fragen nach den emotionalen Wirkungen poetischer Texte und konstruktive Überlegungen zu einer raumtheoretischen Erweiterung der Literaturforschung. Nach wie vor wünscht sie sich interessierte Leser mit nachhaltiger Aufmerksamkeit und Begeisterung für literarische Werke. Denn diese eröffnen weiterhin und immer wieder neue Welten.
Profitieren konnte die Neuauflage nicht nur von innovativen Bewegungen innerhalb des Faches, sondern auch und vor allem von den Fragen von Studierenden und Kollegen. Für dieses Interesse danke ich ebenso wie für die stetige Unterstützung durch den Verlag De Gruyter. Hier haben vor allem Manuela Gerlof und Christine Henschel dazu beigetragen, dass der Band in dieser Form erscheinen konnte. Vielen Dank.

Berlin, im April 2012                       ralf klausnitzer
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