GK C Bauformen des Erzählens: Arthur Schnitzler// WS 2000/01

Arbeitsblatt Integrative Erzähltextanalyse

Eine integrative Erzähltextanalyse verschränkt die narratologischen Konzepte/Verfahren mit dem Ziel, die komplexen Strukturen eines Erzähltextes zu erfassen und textuell abgesicherte Interpretationen zu ermöglichen.
Es geht also weniger um eine schematische Anwendung der Kategorien Handlung – Zeit – Modus – Stimme, sondern um deren instrumentellen Einsatz zur Aufstellung, Diskussion und Bestätigung (oder Abweisung) von Deutungshypothesen

Wichtig: Die hier aufgelisteten Fragestellungen verstehen sich als allgemeine Hinweise; jeder Erzähltext (Reportage, Kurzgeschichte, Novelle, Roman etc.) wirft selbstverständlich eigene Fragen auf, die zur Modifikation des vorliegenden Fragenkatalogs führen!

 

Was wird erzählt?

Wie wird erzählt?

Handlung und handlungsfunktionale Elemente des Erzähltextes

a) Was geschieht? Wie werden Geschehensmomente zu einer Geschichte integriert?

b) Lassen sich Abschnitte (syntagmatische Einheiten) des Textes einteilen und welche Beziehungen bestehen zwischen ihnen?

c) Welche Ereignisse/ Motive spielen für Handlungsfortgang eine spezifische Rolle?

Zeit

a) Welche zeitlichen Verhältnisse werden wie dargestellt? (Verhältnis von „Erzählzeit“ zu „erzählter Zeit“)

b) In welcher zeitlichen Abfolge wird das Geschehen präsentiert? Welche Wirkungen werden durch Rückwendungen und Vorausdeutungen erzielt?

Konstellation von Figuren und Situationen:

a) Wie werden Figuren (Protagonisten/Antagonisten) eingeführt und charakterisiert?

b) Verändern sich Figuren/ Situationen, bleiben sie statisch?

c) Sind die vorgeführten Figuren/ Situationen eindimensional oder komplex? Werden Motivationsstrukturen präsentiert oder Schemata angeboten?

d) Sind Figuren/ Situationen an bestimmte Handlungsorte gebunden und über diese Orte mit Bedeutung ausgestattet?

e) Werden Figuren sozial/ geschlechtsspezifisch/ generationsspezifisch gruppiert (Ober-Unterschicht, Establishment-Outcast, Frau-Mann etc.) und durch welche Merkmale werden Zugehörigkeiten bestimmt?

Modus (Mittelbarkeit/ Perspektive des Geschehens)

a) Werden Figuren durch sprachliche Äußerungen (Figurenrede) oder durch die Wiedergabe mentaler Prozesse (Gedankenrede) charakterisiert und wie werden diese Reden sichtbar gemacht (Erzählte Rede/ Bewußtseinsbericht – Transponierte Rede – Zitierte Rede/Innerer Monolog)?

b) Welche Perspektive in der Wahrnehmung des erzählten Geschehen dominiert (Auktoriale Übersicht – Aktoriale Mitsicht – Neutrale Außensicht)? Auf welche Figuren/Situationen wird die Aufmerksamkeit fokussiert?

Konfliktstruktur und Handlungsverlauf:

a) Existiert ein handlungsauslösender Konflikt? Wie wird er aufgebaut, entfaltet, gelöst?

b) Ist der Schluß des Erzähltextes eindeutig oder mehrdeutig? Wird eine Parteinahme für eine Figur/ Verhaltensweise markiert?

Stimme (Dimensionen der „narrativen Instanz“)

a) Welches zeitliche Verhältnis herrscht zwischen Erzählen und Erzähltem („Früheres“ – „Gleichzeitiges“ – „Späteres“ Erzählen)?

b) Bildet der Erzähltext einen Rahmen für Binnenerzählungen („intradiegetisches Erzählen“)? Welche Beziehnungen bestehen zwischen den Ebenen?

c) In welchem Maße ist der Erzähler am Geschehen beteiligt?

d) Wer spricht zu wem? Wer ist Subjekt, wer ist Adressat des Erzählens?

 

Entwicklung einer Deutungshypothese

Worin bestehen die strukturierenden Oppositionen des Erzähltextes (Natur-Zivilisation, Anarchie-Ordnung, Jugend-Alter, Bewußtes-Unbewußtes etc.) und wie sind diese Oppositionen an Figuren/ Situationen gebunden? Welche „Lösung“ wird durch die Handlung gefunden?

Um welchen Konflikt geht es unterhalb der denotierten („sichtbaren“) Handlungsebene? Welche Subtexte/ Konnotationen lassen sich mit Blick auf kulturelle Kontexte der Entstehungszeit des Textes herausarbeiten?

Dazu wichtig: Reflektieren bzw. kommentieren die dargestellten Figuren bestimmte soziale Beziehungen in der Entstehungszeit des Erzähltextes? Wird das erzählte Geschehen innerhab des Textes affirmiert oder kritisiert? Von wem? Mit welcher Begründung? Wie?

 

Ein mögliches Modell für eine integrative Erzähltextanalyse könnte etwa so aussehen:

Darstellung der Geschehensmomente auf einer Zeitachse:
================>     =================>      ================>
Titel und Exposition des Erzähltextes Handlungs- und Konfliktstrukturen des Erzähltextes und deren Vermittlung Entwicklung einer Deutungshypothese
Titel: Was sagt/ bezeichnet er (Denotation), was assoziiert er (Konnotation)?

Exposition:
Welche Signale werden im ersten Textabschnitt gegeben?

Lokalisierung: Einführung der handelnden Figur(en) in bestimmter Umgebung

Perspektivierung: Einführung eines Wahrnehmungswinkels

Markierung des sozialen, geschlechts- und generationsspezifischen Status der handelnden Akteure

Gruppierung der Figuren

erste Worte und deren Bedeutung

 
Wer erzählt was?
 
Welche Konstellationen / Konflikte lösen das erzählte Geschehen aus?

In welchen temporalen Dimensionen vollzieht sich Entfaltung/Lösung des Konflikts?

 
Wie werden Figuren charakterisiert?
(Figuren-/Gedankenrede)
 
Hintergrundannahme: Literarische Texte realisieren eine besondere symbolische Kommunikation, die durch den Einsatz von Konnotationen (= zusätzlich assoziierte Bedeutungen) Mehrdeutigkeiten/ Unbestimmtheiten produziert

„Entschlüsselung“ der (mehrfachen) Bedeutung vollzieht sich durch Analyse der strukturierenden Oppositionen innerhalb des Textes und deren Verbindung mit Kontext (Wissensbestände und Wertvorstellungen in der Entstehungszeit des Textes)

Jede Aussage über die „Bedeutung“ / „Botschaft“ eines Erzähltextes sollte die Einsichten aus den o.g. Analyseschritten nutzen, um
1.) die komplexen Strukturen auf der „Oberfläche“ des Erzähltextes zu gliedern
2.) die subtextuellen/ konnotativen Dimensionen des Erzählten zu bestimmen