Systematisches
und Exemplarisches.
Über seinem Schreibtisch im Kaiser-Wilhelm-Institut
für Zellphysiologie hatte Otto Warburg eine gerahmte Tafel hängen,auf
der eine bekannte Senztenz Max Plancks zu lesen war: "Theorien setzen sich
nicht deshalb durch, weil deren Gegner die eigenen Irrtümer einsehen,sondern
nur weil diese Gegner aussterben." Warburg muß diesen Satz als eine
Art Lebensmaxime angesehen und befolgt haben, denn als er 1970 starb, hatte
er seine wissenschaftlichen "Gegner" Heinrich Wieland und Richard Willstätter
um Jahrzehnte überlebt und glaubte den "Krieg" (so Warburg 1946 über
die Kontroverse um die Atmungstheorie zwischen 1922 und 1929) gewonnen.
Allerdings wissen wir heute, dass in dieser Debatte beide Seiten zumindest
partiell Recht besaßen: Warburgs Theorie der Sauerstoff-Aktivation
und Wielands Theorie der Substrat-Aktivierung sind in der gegenwärtig
gültigen Theorie der biologischen Oxidation kombiniert.1
Überlegungen zum Schreiben von Wissenschaftsgeschichte Vortrag auf dem 1. Wissenschaftshistorischen
Colloquium der Universität Hamburg,
Nun möchte ich weniger dem Leben und
Sterben wissenschaftlicher Kombattanten nachgehen, sondern vorerst dem
in Plancks Aphorismus verborgenen Wissenschaftsverständnis. Folgen
wir nämlich der Aussage, daß sich erst mit dem Sterben der "Gegner"
die eigenen Auffassungen durchsetzen, ergibt sich ein ziemlich pessimistisches
Bild von Wissenschaft: Weniger die intersubjektiv nachvollziehbaren Beobachtungen
oder die mit "guten Gründen" vorgetragenen Erklärungen sind es,
die so etwas wie "wissenschaftliche Rationalität" ausmachen, sondern
biologische Bedingungen, denen auch die Träger von Wissensansprüchen
unterworfen sind. Erkenntnisfortschritt - was auch immer darunter zu verstehen
ist - lässt sich nach dieser Auffassung nicht auf die rationale Überzeugungskraft
von Erklärungen zurückführen; die Anerkennung von wissenschaftlichen
Geltungsansprüchen folgt vielmehr dem ehernen Gesetz des Lebens, das
mit dem Tod ursprünglich verbunden ist.
Wissenschaftsgeschichte - soviel lässt
sich nach Plancks Diktum und in Übereinstimmung mit unseren Erfahrungen
wohl sagen - stellt also ein prozessuales Geschehen dar, das mit
der Produktion, Diskussion, Annahme und Ablehnung von Wissensansprüchen
in historischen Zeit-Räumen verbunden ist. In der retrospektiven
Rekonstruktion dieses Geschehens formiert die Wissenschaftsgeschichtsschreibung
jene "Geschichte" (oder vielleicht besser: "Geschichten"), in denen Vorgänge
und Resultate der Wissensproduktion fixiert, bestimmten Subjekten
zugeschrieben und in noch näher zu erklärende Zusammenhänge
und
Verlaufsformen gebracht werden.
Nur kurz sei auf die Folgen hingewiesen,
die sich bei den zumeist implizit unterstellten Relationen von Texten
und deren unhinterfragter Verfestigung zu wissenschaftsgeschichtlichen
Zusammenhängen ergeben. So beginnt etwa eine vor kurzem veröffentlichte
Studie über ein Zeitschriftenprojekt der 1860er Jahre mit dem Satz:
"In der Wissenschaftsgeschichte der geisteswissenschaftlichen Disziplinen
fehlt es bis heute an umfassenden Studien zur Rezeption des westeuropäischen
Positivismus in Deutschland ebenso wie an gründlichen Rekonstruktionen
all der Verbindungen, die der autochthone Historismus und der Positivismus
miteinander eingingen."3
Texte können nun auf verschiedene Weise gelesen werden: Als "Nachricht" vermittelt ein Text Erkenntnisse über den Sachverhalt, von dem er spricht; als "Symptom" läßt er Erkenntnisse zu über den Autor, der ihn schrieb oder über die Zeit, in der er entstand; als "Gegenstand" vermittelt er Erkenntnisse über sich selbst, d.h. über seine Organisation und Strukturprinzipien.4 Da die möglichen Erkenntnisse ("sachbezogen", "autor-/zeitbezogen", "textbezogen") aus jedem Text in unterschiedlicher Dichte zu gewinnen sind und weder in einem Ausschließungsverhältnis stehen noch "vom Text selbst" vorgegeben werden, scheint in erster Linie das Erkenntnisinteresse über die "Prävalenz einer Ansicht" (Klaus Weimar) zu entscheiden und den methodischen Zugang zu bestimmen: Ein Historiker wird Texte vorrangig als "Nachricht" über Ereignisse lesen. Ein Literaturwissenschaftler liest Texte als "Symptom", d.h. mit Blick auf den Autor und seine Zeit und als "Gegenstand", d.h. mit Blick auf die Organisationsprinzipien des Textes selbst. Ein Wissenschaftshistoriker schließlich wird sich – wenn ihm denn der Nachvollzug von Geltungsansprüchen nicht gleichgültig ist – sowohl für den referentiellen Gehalt als auch für die zeitgeschichtlichen Umstände und die Person des Urhebers interessieren und auch die Textstrukturen, d.h. die Argumentations- und Darstellungsformen nicht vernachlässigen. Entscheidend für die hier interessierende
Verfassung wissenschaftlicher Texte und deren Verknüpfung sind also
(a) die Funktion des Textes, Träger bestimmter Geltungsansprüche
zu sein, (b) seine Einbettung in einen spezifischen Kommunikationszusammenhang
und (c)
seine von den Parametern "Funktion" und "kommunikativer Kontext"
bestimmten Organisationsprinzipien.
Wissenschaftliche Texte wenden sich
zweitens an eine bestimmte Adressatengruppe – also an Individuen, die sich
aufgrund erworbener Zugangsrechte und institutioneller Bindungen als "Wissenschaftler"
verstehen und durch die Arbeit an gleichen Problemen, durch Lektüre
derselben Bücher und Zeitschriften und nicht zuletzt durch den Besuch
gleicher Tagungen und Kongresse verbunden sind.
II Vorerst komme ich zum zweiten Punkt meiner
Überlegungen: Zur Frage, wie sich angesichts disparater Textvorkommnisse
Beziehungen zwischen ihnen – also zwischen wissenschaftlichen Texten wie
auch zwischen wissenschaftlichen Texten und politischen Rahmenbedingungen
oder zwischen wissenschaftlichen Überlegungen und kulturellen Kontexten
– auffinden und beschreiben lassen.
Diese vier Kriterien gestatten es, Textvorkommnisse
zusammenzufassen und zeitlich zu situieren. Von Bedeutung dabei ist, dass
sich in einer Zeitphase nicht alle, sondern nur bestimmte Teilmengen der
Möglichkeiten wissenschaftlichen Sprechens beobachten lassen. Zahlreiche
Faktoren wie "Erfolg", Gruppenbildung durch Solidarisierung, universitäre
Sozialisation u.a. schaffen mit der Limitierung von wissenschaftlichen
Vertextungschancen die Struktur eines "Verbundes", der seinen eigenen Regeln
und Strategien zu folgen scheint. Diese scheinbare Autonomie ist es wohl,
die dem Wissenschaftshistoriker die systematische Zusammenfassung von Texten
zu "Textkorpora" und "Diskursen" und damit auch die Reden von "Schulen",
"wissenschaftlichen Forschungsprogrammen" und "Paradigmen" gestattet und
zu deren Erklärung wissenschaftsphilosophische Theorien heranziehen
läßt – obwohl doch zahlreiche Einzelfallstudien immer wieder
die Inkompatibilität von systematisch entwickelten Modellen wissenschaftlicher
Rationalität und historischer Praxis zeigen.
III Ist ein Textkorpus entsprechend der oben genannten Aspekte (Gattung/Typik, Textverlaufsform, Sprache und semantische Tiefenstrukturen der Formulierung und Einlösung von Wissensansprüchen) zusammengestellt und einer Zeitphase zugeordnet, beginnt die eigentliche und entscheidende Tätigkeit des Wissenschaftshistorikers: Die Modellierung eines neuen Textes. Dieser neue Text als das Produkt der Lektüre "alter" Texte soll (trotz seiner Begrenztheit durch Anfang und Ende, seiner seriellen und immer durch Auswahl des Aussagbaren bestimmten Verfassung) stets mehr sein als die Summe seiner Teile und dabei ein Problem lösen, über das sich der historische Wissenschaftsforscher nicht selten eher im unklaren ist. Sicher scheint er sich darin zu sein, die rezipierten Texte in einer höheren Ordnung aufzuheben und "sinnhaft" zu ordnen – und deshalb führt er (= also der ex post vorgehende Wissenschaftshistoriker) in das historische Areal die Konzepte "Subjekt", "Zusammenhang" und "Verlaufsform" ein. Den grundlegenden Organisationsfaktor historischer Texte - Klaus Weimar hat mehrfach darauf hingewiesen - stellt dabei das Konzept "Subjekt" dar. Alle Ereignisse des zu beschreibenden historischen Geschehens werden auf diesen zentralen Bezugspunkt ausgerichtet; in der Auswahl, der Kombination und der narrativen Vertextung der Geschehensmomente wird seine – des Subjekts – Geschichte erzählt. Als "Subjekte" figurieren in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung dabei nicht allein die durch biographische Daten identifizierbaren Forscher und akademischen Lehrer, sondern vor allem auch unpersönliche Subjekte wie etwa die schon mehrfach genannten Begriffsprägungen "westeuropäischer Positivismus" und "autochthoner Historismus", "Geistesgeschichte" und "werkimmanente Interpretation". Unpersönliche Subjekte können aber auch wissenschaftliche Kontroversen sowie Bücher und Zeitschriften sein. Aufschlußreich ist nun, dass diese unpersönlichen Subjekte als Entitäten selbst erscheinen, zugleich aber vielfach vertreten werden – so in der Form von personalen Repräsentanten, in der Form von exemplarischen Texten oder durch Indizien. So agieren etwa Auguste Comte und John Stuart Mill als personale Repräsentanten des "westeuropäischen Positivismus", Mills System of Logic gilt als einer seiner exemplarischen Texte, Mikrologie und induktive Schlussprinzipien auf der Basis partikularer Analysen sind dann der Beleg für eine "positivistische" Wissenschaftsauffassung. Andererseits kann das "unpersönliche Subjekt" der wissenschaftsgeschichtlichen Erzählung und sein Wirken auch durch illustrierende Hinweise markiert werden: Informationen über Karriereverläufe und Lehrstuhlbesetzungen dienen gleichzeitig als Beleg für die Präsenz einer wissenschaftlichen Schule im universitären Raum. Auf die strategischen Funktionen dieser "Subjekte" und ihrer unterschiedlichen Manifestationen kann hier nur kurz hingewiesen werden: Sie stellen eine Verbindung zwischen synchronen Geschehensmomenten her und machen allgemeine Strukturen in der Wissensproduktion sichtbar – vielfach durch die Rekonstruktion eines ex ante zumeist nicht explizierten "Forschungsprogramms" oder "Paradigmas", das so etwas wie Identität zwischen Texten stiftet. Die genannten "Vertreter" – also personale Repräsentanten, markante Texte oder Indizien – exemplifizieren dann einen Zusammenhang, der ja per se nicht selbstverständlich ist. Die Einführung des "Subjekts" stellt einen Zusammenhang synchroner Art her; der zweite Organisationsfaktor schafft einen Zusammenhang auf der Zeitachse der Wissensproduktion. Die Bildung von Konsekutionen zwischen dem "Anfang" und dem "Ende" bestimmter wissenschaftshistorischer Konstellationen ordnet die Geschichte des "Subjekts" in der chronologischen Weise des "Vorher"-"Nachher" und strukturiert sie nach bestimmten Mustern, wie wir sie aus Beispielen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung kennen: Das ‚physikalistische’ Konzept von Ursache und Wirkung bringt etwa "wissenschaftsexterne" und "interne" Faktoren in eine Verbindung – so wie es etwa mit einigem Furor Paul Forman in seiner Erklärung der Quantenmechanik aus dem Geist der Weimarer Republik getan hat.9 Das logisch-psychologische Konzept von Grund und Folge liegt z.B. den Beschreibungen von wissenschaftsinternen "Einfluß"- und "Austausch"-Beziehungen zugrunde, aber auch der Rekonstruktion der Beziehungen von wissenschaftlichen Intentionen und ihren intendierten/ kontraintendierten Folgen. 10 Telelogisch operiert dagegen das Konzept von Verheißung und Erfüllung, das beispielsweise "Vorläufer" von bestimmten "wissenschaftlichen Forschungsprogrammen" aufzufinden sucht oder aber in später erfolgreichen Paradigmen die "Einlösung" seinerzeit ignorierter Überlegungen erkennen will – hier wäre an die zahlreichen Fallstudien zu Gregor Mendel als dem angeblichen Vorläufer der Genetik und der Wiederentdeckung seiner "Gesetze" durch Hugo de Vries, Carl Correns und Erich Tschermak um 1900 zu denken. An ethischen, z.T. juristischen Kategorien orientiert ist schließlich das Konzept einer moralischen Ordnung und Bewertung von Wissensansprüchen, wie es in der ideologiekritischen Aufarbeitung von Wissenschaftsgeschichte anzutreffen war (und ist) – hier werden wissenschaftsinterne Prozesse mit ihren gesellschaftlichen "Auswirkungen" korreliert und "schuldige" Akteure nachträglich verurteilt.11 Wichtig und zu betonen ist noch einmal, dass die vier genannten Konzepte zur Stiftung von Zusammenhängen (Ursache-Wirkung, Grund-Folge, Verheißung-Erfüllung, Schuld-Sühne) keineswegs ausschließlich und in Reinform auftreten: Jede Erzählung von Wissenschaftsgeschichte bedient sich dieser Plots freigiebig und oftmals in kombinierter Weise. Von zentraler Bedeutung für die Konstruktion systematischer Beziehungen aber ist zuletzt die Einführung des dritten Organisationsfaktors, der in die Geschichte wissenschaftlicher Kommunikation ein Telos, eine Richtung bringt. Dazu werden die aus Textvorkommnissen konstituierten wissenschaftshistorischen Konstellationen zeitlich gegliedert – etwa durch Aufteilung einer Kontroverse in eine "Früh-" und eine "Spätphase" oder durch die retrospektive Formulierung eines ex ante nicht vorhandenen "Forschungsprogramms" und die Beobachtung seines "Erfolgs" über einen bestimmten Zeitraum – und in Bezug zu Konzepten der Verlaufsform wie "Wandel", "Entwicklung", "Fortschritt", "Wachstum", "Verfall" gebracht. Diese Verlaufskonzepte verfestigen nicht allein den Zusammenhang einer seit der frühen Neuzeit historisch-prozessesierend gedachten Veranstaltung namens "Wissenschaft" durch die Ordnung von "Anfang" und "Ende", sondern bilden zugleich auch den Schlußstein für die Herstellung systematischer Folgerungen. Denn wie kein anderes Phänomen der modernen Wissenschaft hat die fortwährende Veränderung – die Variation wie der diskontinuierliche Bruch – die Wissenschaftsgeschichtsschreibung bewegt. Indem nun disparate Textvorkommnisse zusammengefaßt, persönlichen bzw. unpersönlichen "Subjekten" zugeordnet und entsprechend der Zusammenhangskonzepte und Verlaufsformen qualitativ verzeitlicht werden, lassen sich auch inkommensurable Züge in der Produktion von Wissenschaftsansprüchen auf einen Nenner bringen und vergleichen – obwohl doch die damit verbundenen Purifizierungen mehr als zu denken geben müßten. Auf die Schwierigkeiten einer historischen Wissenschaftsforschung mit systematischem Anspruch kann hier nur äußerst knapp hingewisen werden: Die Herstellung von Zusammenhängen zwischen einzelnen Textvorkommnissen sieht sich einerseits einer inhomogenen Datenbasis gegenüber (so können Texte bzw. Textbestandteile unbekannt, unzugänglich oder verloren sein; vorhandene Texte sind in ihren informativen Gehalten ungleichmäßig verteilt); andererseits gibt es keine sicheren Indikatoren zur Bestimmung von Einflüssen und Wirkungen zwischen Textvorkommnissen.12 Als mögliches Fazit liegt also zuerst ein Hinweis auf die Risiken im Umgang mit Systematisierungen beim Schreiben von Wissenschaftsgeschichte nahe. Aus disparaten Texten und ihren Bezügen zu anderen Texten schafft die Wissenschaftsgeschichtsschreibung eine hoch aggregierte symbolische Struktur, die in ihrem Status nicht mit dem ‚realen‘ Geschehen gleichgesetzt werden darf. Jede noch so materialgesättigte Einzelfallstudie, jede noch so detailliert vorgehende Untersuchung zu einer Episode der Wissenschaftsgeschichte liefert ein purifiziertes Bild, das vor allem in Verbindung mit systematischen Überlegungen zu "exemplarischen Fällen" leicht zur Retusche wird. Andererseits – und damit komme ich zum
Schluß – liesse sich ohne die beschriebenen Prozeduren der
nachträglichen Purifizierung, also ohne die Auswahl bestimmter Textvorkommnisse
und deren Ordnung in Form von Zusammenhangs- und Verlaufskonzepten so etwas
wie "Wissenschaftsgeschichte" gar nicht schreiben: Ein "idealer
Chronist" im Sinne Arthur C. Dantos, der alle Ereignisse der Wissensproduktion
einschließlich der Gedanken der beteiligten Akteure im Moment ihres
Geschehens protokollieren, dafür jedoch weder vor- noch zurückschauen
könnte, würde die Möglichkeit von Geschichtsschreibung geradezu
aufheben. Die Eigenschaften unseres Erkenntnisgegenstandes – die diversifizierte
und hochspezialisierte Produktion von Wissen in historischen Zeiträumen
– wie unsere begrenzte Existenz als menschliche Beobachter
zwingen
zur Auswahl und damit zur Statuierung von Exempeln, die trotz ihrer Unvollkommenheit
und Begrenzung mehr als nur einen singulären Fall repräsentieren.
Zugleich aber beruht gerade auf der Position des historischen (und historisch
begrenzten) Beobachters eine Fähigkeit, die etwa einem "idealen Chronisten"
versagt bliebe: Die Fähigkeit zur Distanznahme. Erst Distanz
macht so etwas wie chronologische und topographische Markierungen möglich;
erst Distanz gestattet die Identifikation von Subjekten und die
Strukturierung des Geschehens durch die Konzepte von Zusammenhang
und Verlauf. Somit wird eine systematische Ordnung des wissenschaftlichen
Produktions- und Kommunikationsprozesses allein durch die Tätigkeit
des retrospektiv vorgehenden Wissenschaftshistorikers denkbar.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 1 Vgl. Petra Werner: Learning from an adversary? Warburg against Wieland. In: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 28 (1997), pp. 173-196, hier p. 173. 2 In gleicher Weise muss für die sich nun durchsetzende Theorie eine erfolgreiche Weitergabe und/oder Modifikation angenommen werden. - Dass Planck sich dieses Umstandes wohl bewußt war, geht aus der vollständigen Fassung der Sentenz hervor, die in seiner Wissenschaftlichen Selbstbiographie zu finden ist. Bei Planck heißt es wörtlich: "Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist." – Zitiert nach John Heilbron: Max Planck. Ein Leben für die Wissenschaft 1858-1947. Stuttgart 1988, S 3 Tom Kindt, Hans Harald Müller: Dilthey, Scherer, Erdmannsdörffer, Grimm – ein ‚positivistisches’ Zeitschriftenprojekt in den 1860er Jahren. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999), S. 180-188. In ebenso allgemeiner Weise beginnt ein bislang unpublizierter Aufsatz derselben Autoren unter dem Titel Dilthey gegen Scherer. Geistesgeschichte contra Positivismus. Zur Revision eines wissenschaftshistorischen Stereotyps: "Die Geistesgeschichte rief in ihren programmatischen Manifesten eine ‚Revolution in der Wissenschaft‘ aus und beanspruchte, die Disziplin aus dem Banne des Positivismus zu erlösen." 4 Vgl. Klaus Weimar: Der Text, den (Literar-)Historiker schreiben. In: Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich, Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart 1990, S. 29-39, S. 30. 5 Dazu jetzt umfassend Lutz Danneberg, Jürg Niederhauser (Hrsg.): Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie. Tübingen 1998 (= Forum für Fachsprachen-Forschung 39); hier insbesondere im Beitrag der Herausgeber mit reichhaltigen weiterführenden Literaturangaben. – Die Erforschung der Darstellungsformen in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung steckt noch in den Anfängen; einen (nicht unproblematischen) Anfang bietet William Clarke: Poetics for Scientists. In: Studies in History and Philosophy of Science 23 (1992), pp. 181-192; ders.: Narratology and the History of Science. In: Studies in History and Philosophy of Science 26 (1995), pp. 1-71, wo die von Northrop Frye und Hayden White entwickelten Muster zur Beschreibung narrativer Strukturen in historischen Texten (Voice, Scene, Agents, Plot, Audience) exemplarisch auf vier wissenschaftshistorische Werke angewandt werden. 6 Dazu Stefan Weigert: Wissenschaftliche Darstellungsformen und Uneigentliches Sprechen. Analyse einer Parodie aus der Theoretischen Physik.. In: Lutz Danneberg, Jürg Niederhäuser (Hrsg.): Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast, S. 131-156. 7 Vgl. Lutz Danneberg, Jürg Niederhäuser : "... daß die Papierersparnis gänzlich zurücktrete gegenüber der schönen Form." Darstellungsformen der Wissenschaft im Wandel der Zeit und im Zugriff verschiedener Disziplinen. In: Dies. (Hrsg.): Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast, S. 49-60; Eva-Maria Jakobs: Vernetzte Fachkommunikation. Ein interdisziplinärer Ansatz. In: Ebenda, S. 189-211. 8 Diese auf der Basis von Relationszusammenhängen konstituierten Strukturen reichen von "Verwebungen und Vernetzungen" in unterschiedlicher Komplexität bis zu Konglomeraten und Aggregaten und enden im im Grenzfall der Nullstrukturierung bei der regellosen Häufung, vgl. Elisabeth Ströcker: Über die mehrfache Bedeutung der Rede von Ganzen und Teilen. Bemerkungen zum sogenannten hermeneutischen Zirkel. In: Karl Acham, Winfried Schulze (Hrsg.): Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften. München 1990 (= Beiträge zur Historik, Bd. 6), S. 278-298, hier S. 283. 9 Paul Forman: Weimar culture, causality, and quantum theory: adaption by German physicists and mathematicians to a hostile intellectual environment. In: Historical Studies in the Physical Sciences 3 (1971), pp. 1-115; ders.: Kausalität, Anschaulichkeit und Individualität. Oder: Wie Wesen und Thesen, die der Quantenmechanik zugeschrieben, durch kulturelle Werte vorgeschrieben wurden. In: Nico Stehr, Volker Meja (Hrsg.): Wissenssoziologie. Opladen 1981. (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 22), S. 393-406 (auch in Englisch als: Kausalität, Anschaulichkeit and Individualität, or How Cultural Values Prescribed the Charakter and the Lessons Ascribed to Quantum Mechanics. In: Nico Stehr, Volker Meja (Eds.): Society and Knowledge: Contemporary Perspectives in the Sociology of Knowledge. New Brunswick 1984, pp. 333-347); Klaus T. Volkert: Die Krise der Anschauung. Eine Studie zu formalen und heuristischen Verfahren in der Mathematik seit 1850. Göttingen 1986 (= Studien zur Wissenschafts-, Bildungs- und Sozialgeschichte der Mathematik 3); ders.: Zur Rolle der Anschauung in mathematischen Grundlagenfragen: Die Kontroverse zwischen Hans Reichenbach und Oskar Becker über die Apriorität der euklidischen Geometrie. In: L. Danneberg, A. Kamlah, L. Schäfer: Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, S. 275-293. – Paul Formans provokante Arbeiten zur Geburt der Quantenmechanik aus dem Geist der Weimarer Republik sind, durch Beiträge zeitgenössischer Akteure ergänzt, zusammengefaßt erschienen in: Karl von Meyenn (Hrsg.): Quantenmechanik und Weimarer Republik. Braunschweig, Wiesbaden 1994. 10 Systematische Überlegungen zur Konstruktion von Vorläufern (sowohl durch aktive Wissenschaftler als auch durch retrospektiv vorgehende Wissenschaftshistoriker) bilden noch immer ein Desiderat der Wissenschaftsforschung. Überlegungen dazu finden sich bei Iris Sandler: Some Reflections of the Protean Nature of Scientific Prosecutor. In: History of Science 17 (1979), pp. 170-190; der Beitrag von Tom Kindt und Hans-Harald Müller auf dem DFG-Symposium "Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung" u.d.T. Konstruierte Ahnen. Forschungsprogramme und ihre "Vorläufer" kann nur als ergänzungsbedürftiger Anfang gelten. 11 Ein Beispiel dafür könnten die zahlreichen Fallstudien zum Transfer morphologisch-gestalttheoretischer Vorstellungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert sein, die etwa die Beziehungen zwischen Geistes- und Kulturwissenschaften einerseits und den Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie andererseits theamtiseren, u.a. William Coleman: Morphology between Type Concept and Descent Theory. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 31 (1976), S. 149-175; Lynn Nyhart: The Disciplinary Breakdown of German Morphology, 1870-1900. In: Isis 78 (1987), S. 365-389; ders.: Biology takes Form. Animal Morphology and the German Universities, 1800-1900. Chicago 1995; Rudie Trienes: Type Concet Revisited. A Survey of German Idealistic Morphology in the First Half of the 20th century. In: History and Philosophy of the Life Sciences 11 (1989), S. 23-42; zur Gestaltpsychologie instruktiv Mitchel G. Ash: The Emergence of Gestalt theory: Experimental Psychology in Germany 1890-1920. Diss. Harvard University 1982; ders.: Gestalttheorie. In: Lutz Danneberg, Andreas Kamlah, Lothar Schäfer (Hrsg.): Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe. Braunschweig, Wiesbaden 1994, S. 87-100; ders.: Gestalt Psychology in German Culture 1890-1967: Holism and the Quest for Objectivity. Cambridge/New York 1995. 12 Ein möglicher szientometrischer Indikator für Austausch, Einfluß und Wirkung von Texten und den in ihnen fixierten Konzepten und Methoden sind etwa die in einem abgrenzbaren Zeitraum erschienene Literatur und die in ihr enthaltenen gruppenbezogenen Informationen, die vor allem in der Form von Zitationen erscheinen und kognitiv als Konstruktion eines symbolischen Rahmens der eigenen Überlegungen und soziologisch als Verweis auf ein soziales Binnennetzwerk interpretiert werden können. Wie Kritiker der Zitationsanalyse feststellen, werden die wirklichen Quellen wissenschaftlicher Ideen jedoch oft genug nicht angeführt, während Verweise auf Sekundärquellen, auf Arbeiten minderer Qualität, von gegenwärtig aktuellen Autoren oder auch nur im Interesse der eigenen Karriere durchaus möglich sind. Gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften dokumentieren Zitationen häufig nur die Belesenheit des Autors und weisen keinen Bezug zum Thema auf. Unter Berücksichtigung dieser Umstände stellt die Zitationsanalyse kein Instrument zur Eruierung der eigentlichen sozialen Wirkungsbeziehungen des Wissenstransfers dar, sondern ist vor allem ein Mittel zur Herausarbeitung symbolischer Strukturen, dazu Henry G. Small: Cited Documents as Concept Symbols. In: Social Studies of Science 8 (1978), pp. 327-340. Die in Form von Verweisen und Zitationen ausgesprochenen Primärwertungen und Anerkennungen müssen sich in der Analyse und Interpretation der wechselseitigen Einflußnahme bereit zumindest partiell nach der Selbstwahrnehmung der sozial und kognitiv vernetzten Mitglieder der "paradigmatischen Gruppe" richten! |