Neujahrsansprachevon Bundespräsident Johannes Rau
vor dem Diplomatischen Corps
am 18. Januar 2000
Sehr geehrter Herr Nuntius,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
ich wünsche Ihnen zu allererst ein gutes neues Jahr und freue mich darüber, heute
auch diejenigen kennen zu lernen, denen ich im ersten Halbjahr meiner Amtszeit noch
nicht begegnet bin.
Der Übergang zum Jahr 2000 liegt hinter uns, und vielleicht geht es Ihnen ja so wie
mir: Trotz der bewegenden Bilder der letzten Tage kann ich selbst einen Jahrtausendwechsel
nicht als wirkliche Zäsur im Strom der Geschichte empfinden. Denn die hält sich bekanntlich nicht an Jahre und Jahreszeiten.
Wir lassen ein Jahrhundert hinter uns, wie es Deutschland in seiner Geschichte noch
nicht erlebt hatte - im Guten wie im Schlechten: In der ersten Hälfte haben zwei
furchtbare Kriege, der Terror eines barbarischen Regimes und Völkermord von deutscher
Hand alles überschattet, was dieses Land in vielen Jahrhunderten zuvor an kulturell Bleibendem
hervorgebracht hat.
Das Jahrhundert mag vergehen; das Gedenken an das Geschehene wird unauslöschlich bleiben.
Die zweite Hälfte des Jahrhunderts erscheint mir dagegen wie ein Erwachen Europas
aus dem Albtraum. Die erfolgreiche europäische Integration hat eine Periode des Friedens
und der Prosperität eingeleitet, wie Europa sie seit Jahrhunderten nicht mehr kannte.
Und Deutschland hat seine Einheit wiedergefunden. Wir sehen: Geschichte kann auch
gelingen.
Nach Krieg und Zusammenbruch hat Europa eine Integrationspolitik verwirklicht, die
andere Regionen ermutigte, es ebenfalls zu versuchen um Vertrauen zu schaffen, um
Spannungen abzubauen und um den Wohlstand der Bürger zu mehren.
Bricht nun ein goldenes Zeitalter an, das Europa zu einem Muster weltweiter Friedensstiftung
werden lässt? Natürlich nicht.
Die Welt war im vergangenen Jahrzehnt nicht gerade auf dem Königsweg zum Frieden,
auch in Europa nicht. Wir haben erneut miterleben müssen, was Menschen einander antun
können - in Europa und in anderen Teilen der Welt.
Wir waren erschüttert über das, was in Ruanda geschehen ist. Wir waren entsetzt über
das, was sich auf dem Balkan zugetragen hat. Wir haben gelitten und leiden an dem,
was selbst Staaten innerhalb der Europäischen Union an Terrorismus ertragen mussten
und müssen.
Dennoch: Ich halte es auch angesichts dieser erschütternden Erfahrungen mit dem leidgeprüften
deutschen Dichter Hölderlin: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch". Auch
dafür gab es erfreuliche Beispiele: Wir haben in beeindruckender Weise erlebt, wie zwei Nachbarn, Griechenland und die Türkei, sich angesichts der Naturkatastrophe,
die beide traf, gegenseitig zu Hilfe eilten.Wir haben es fast als ein Wunder empfunden,
wie mutig die indonesische Politik unter Inkaufnahme schmerzlich empfundener Verluste einem Autonomiebegehren zustimmte, mit dem der regionale Friede wieder hergestellt
werden kann. Und auch in Nordirland - das ist das jüngste Beispiel - zeigt sich,
dass irgendwann die im
Menschen natürlich angelegte Klugheit obsiegen kann. Die nächste Chance zu einem Sieg
der Vernunft hat der Nahe Osten. Wir alle hoffen darauf.
Diesen Beispielen ist eins gemeinsam: Die politisch Verantwortlichen haben es geschafft,
die uralten Verhaltensmuster, in denen der Mensch dem Mitmenschen zum sprichwörtlichen
"Wolf" wird, zugunsten des Gedankens guter Nachbarschaft aufzugeben. Ein Nachbar ist ein Mensch, mit dem man leben muss; man kann sich seine Nachbarn bekanntlich
nicht aussuchen.
Wir können aber Nachbarschaft auch bewusst pflegen. Willy Brandt schlug uns Deutschen
vor, ein Volk guter Nachbarn zu werden. Wir haben es versucht, und wir sind gut damit
gefahren.
In Europa leben wir heute nach jahrhundertelanger Feindschaft mit vielen Nationen
in guter Nachbarschaft zusammen.
Es gibt im Zeitalter der Globalisierung immer mehr Kräfte, die uns unabhängig von
der Geografie zu Nachbarn machen. Denken Sie an die moderne Kommunikation, an die
Gefährdungen der Umwelt,
an den internationalen Handel und an die Kapitalbewegungen. Denken Sie an die Migration
und an das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen im eigenen Land.
Wenn wir von Problemen betroffen sind, die wir nur gemeinsam lösen können, dann haben
wir es mit typischen Nachbarschaftsproblemen zu tun.
Niemand kann heute guten Gewissens sagen, dass es ihn nichts angeht, wenn im Kosovo
oder in Ruanda Menschen in Massen ermordet werden. In Europa wurde dafür der schreckliche
Euphemismus"ethnische Säuberung" gefunden. Ein Ausdruck der maßlosen Menschenverachtung und das Unwort des Jahrzehnts.
Eine Politik des Prinzips "guter Nachbarschaft" wäre eine Außenpolitik, die sich von
der klassischen Machtpolitik zur Politik gemeinschaftlicher Verantwortung, von der
Politik nationaler Alleingänge zur Politik der Solidarität wandelt.
Eine solche Politik zu entwerfen, sollte uns heute leichter fallen als Politikern
vergangener Jahrhunderte. Denn eine solche Politik gründet auf den Werten, die uns
bei allen politischen und kulturellen Unterschieden gemeinsam sind oder doch sein
sollten: Das ist zum einen die Überzeugung, dass zwischen Demokratie, Frieden und Entwicklung
ein Zusammenhang besteht. Die Entwicklung in vielen Ländern belegt, dass demokratische
Staaten, die Rechtssicherheit garantieren, oft auch größeren Wohlstand erzielen.
Das ist zum anderen die Einsicht, dass wir einen Dialog der Kulturen und der Religionen
führen müssen, um das verbindende Gemeinsame wieder zu entdecken, und das friedliche
Zusammenleben zu sichern: zwischen den Staaten, zunehmend aber auch innerhalb der ethnisch und kulturell längst nicht mehr homogenen Staaten. Und schließlich
eint uns die Überzeugung, dass schlimmste Menschenrechts-verletzungen, die Machtpolitiker
unter dem Schutz des Souveränitätsprinzips begehen zu können glauben, eine ernste Störung des internationalen Friedens sind. Auch das ist ein Charakteristikum
der kleiner werdenden Welt.
Ich rede hier keiner leichtfertigen Interventionspolitik das Wort. Ich glaube aber
auch nicht, dass die tatsächlich bestehenden kulturellen Unterschiede einen moralischen
Relativismus rechtfertigen, der auch die Menschenrechte relativiert. Wir alle wissen, wie oft das nur ein Vorwand ist, um sich vor berechtigter Kritik zu schützen.
Wenn es um die elementarsten Menschenrechte geht, bleibt kein Raum für Interpretation:
Massaker, wie sie in Ruanda oder zuletzt im früheren Jugoslawien geschehen sind,
dürfen von der Staatengemeinschaft nicht toleriert werden.
Die Völkergemeinschaft hat Rechtsgrundsätze entwickelt, um solchem Unrecht zu wehren.
Wir haben Institutionen geschaffen, um die Einhaltung auch international zu kontrollieren
und durchzusetzen.
Diese Instrumente müssen wir funktionsfähig machen und stärken. Der Generalsekretär
der Vereinten Nationen, Kofi Annan, hat in seiner Rede vor der 55. Menschenrechtskommission
der Vereinten Nationen den Weg dahin gewiesen.
Kofi Annan hat in seinem Rechenschaftsbericht vor den Vereinten Nationen auch den
Gedanken der präventiven Außenpolitik propagiert.
Er wirbt für die Entwicklung eines Instrumentariums, mit dem in einer kleiner gewordenen
Welt Probleme vorbeugend gelöst werden können.
Die Beilegung bereits ausgebrochener Konflikte, die Heilung der Wunden, die sie schlagen,
ist unvergleichlich teurer als ihre Verhütung.
Präventive Außenpolitik waren bereits die ersten Ansätze europäischer Integration
nach dem Zweiten Weltkrieg. Regionale Zusammenarbeit und Integration sind der geeignete
Weg, um von den letzten Resten der Willkür in der Außenpolitik zu rechtlich geregelten und berechenbare internationalen Beziehungen zu kommen. Ich kann mir kein anderes
außenpolitisches Konzept vorstellen, das unserer eng gewordenen Welt besser gerecht
würde.
Zusammenarbeit und Integration sind auch die richtige Antwort auf das wohl größte
Thema, das uns zur Zeit beschäftigt: die Globalisierung der Wirtschaft mit all ihren
Chancen und Risiken.
Angesichts der wachsenden Macht globaler Märkte und des schwindenden Einflusses der
Nationalstaaten brauchen wir eine internationale Ordnungspolitik so, wie wir für
nationale Märkte eine nationale Ordnungspolitik haben oder haben sollten.
Von einer Öffnung der Märkte dürfen nicht nur die starken Länder und die großen Unternehmen
profitieren. Sie muss auch für die schwachen Länder und ihre Bevölkerung Vorteile
bringen. Auch das ist eine Pflicht der Nachbarschaft und der Solidarität.
Das Scheitern der jüngsten Konferenz der Welthandelsorganisation bestätigt mich in
dieser Überzeugung.
Marktöffnung und Arbeitsteilung sind eine gute Sache; zur Wohlstandsmehrung für alle
gehört aber auch eine Kultur der Solidarität innerhalb und zwischen den Gesellschaften.
Für das Zusammenleben von Nachbarn und für nachbarschaftliche Hilfe gibt es in allen
Kulturen Regeln und Traditionen.
Es gab sie unter den frühen Siedlern in Neuengland, es gibt sie noch heute bei den
Reisbauern in Japan. Es gab sie bei den antiken Bewässerungssystemen Ägyptens und
Sri Lankas und es gibt sie auch bei den Zukunftsentwürfen der Welt-Klima-Konferenzen.
Es gibt sie vor allem in den Verträgen zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen.
Je schneller wir uns angewöhnen, sie auch sonst im Umgang zwischen Staaten anzuwenden,
desto besser ist das für uns und unsere gemeinsame Welt. Denn jeder - auch der vermeintlich
Starke - ist auf die Solidarität der anderen angewiesen, alleine ist er angesichts der Größe heutiger Probleme machtlos.
Meine Damen und Herren, die Wurzeln des bis zum 20. Jahrhundert geltenden internationalen
Systems sind 350 Jahre alt. Wesentliche Prinzipien wie das Souveränitätsprinzip und
das Nationalstaatsprinzip wurden im Westfälischen Frieden 1648 festgelegt. Sie haben damals einem durch Religionskriege zerrissenen Europa vorübergehend eine gewisse
Stabilität gebracht. Letztlich führten sie aber auch zur Verbreitung des Nationalismus
und zu neuen Kriegen, jetzt nicht mehr zwischen Konfessionen, sondern zwischen Nationen.
Heute geht es darum, gemeinsame Werte erkennbar zu machen, denen alle Nationen und
Religionen sich verpflichtet fühlen.
Diese Entwicklung können wir am besten fördern, wenn wir im Bewusstsein unserer Nachbarschaft
in der einen Welt handeln und eine Kultur der guten Nachbarschaft miteinander als Muster
der Außenpolitik entwickeln.
Dazu können und dazu sollten alle Länder ihren Beitrag leisten.Das ist nicht immer
der einfachste Weg.
Das geht nicht immer von heute auf morgen.
Aber ich bin davon überzeugt, dass es dazu im Interesse aller Menschen überall auf
der Welt keine verantwortungsbewusste Alternative gibt.
Ich wünsche Ihnen allen ein gutes Jahr 2000.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit für Ihr Land und für unsere eine Welt.
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