Korea.htm
Rede vor den koreanischen Industrieverbänden
Bundespräsident Roman Herzog hielt vor der Federation of Korean Industries am 17.
September 1998 in Seoul folgende Rede.
Herr Präsident,
Herr Vorsitzender,
meine Damen und Herren,
für Ihre Einladung, heute vor Vertretern der koreanischen und deutschen Wirtschaft
zu sprechen, danke ich Ihnen herzlich. Ich freue mich, daß ich gerade in einem Moment
zu Ihnen spreche, der für Korea und Deutschland, für Asien und Europa und schließlich
für die Welt als Ganzes so entscheidend ist.
Zunächst spreche ich natürlich als deutscher Bundespräsident. Deutschland ist mit
Korea durch die Geschichte seiner Teilung und durch viele andere, mitunter sogar
frappierende Gemeinsamkeiten auf einzigartige Weise verwoben. Aber Deutschland ist
Teil Europas und Korea ist Teil Asiens, und beide Regionen befinden sich zur Zeit in gewaltigen
Umbruchprozessen. Beide sind aber auch wie nie zuvor herausgefordert, als Partner
zusammenzuarbeiten. Ich kann also gar nicht anders, als auch von der europäischen
Warte aus zu sprechen - und Korea ist, wie sich gleich noch zeigen wird, ein hervorragender
Standort, um als Europäer nach Asien zu blicken.
Aber nicht nur Asien und Europa sind im Umbruch. Die sogenannte Globalisierung verändert
die ganze Welt, bringt Unruhe in Nationen, Kulturen, in Volkswirtschaften und Gesellschaften.
Da Deutschland und Korea, Europa und Asien in gleicher Weise davon betroffen sind, will ich auch dazu einiges sagen.
Lassen Sie mich mit dem Umbruchprozeß in Europa und Asien beginnen. In Europa ist
die heiß umstrittene Entscheidung für den Euro gefallen, und weil die Märkte inzwischen
von seinem Erfolg überzeugt sind, hat "Euroland", wie wir es ironisch nennen, sich
bisher gegenüber einem Meer von Währungsturbulenzen in Asien, Lateinamerika und Rußland
wie eine Art sicherer Hafen erwiesen. Vielleicht kann sich diese Erfahrung langfristig als nützlicher Testversuch auch für Ostasien erweisen.
Aber die härtesten Strukturanpassungen stehen der europäischen Industrie noch bevor.
Währungsunion und Osterweiterung werden die Europäische Union fundamental verändern.Beide
werden die wirtschaftliche Dynamik im Binnenmarkt erhöhen. Aber sie werden auch den Wettbewerb verschärfen. Regionale Entwicklungsunterschiede werden aufgedeckt, ineffiziente
Institutionen und wettbewerbsunfähige Unternehmen werden bloßgestellt. Die Osterweiterung
wird uns ferner zur Reform der Institutionen der Union zwingen. Die Transformationsländer in Osteuropa müssen andererseits zu massiven Änderungen ihrer politischen
und wirtschaftlichen Strukturen und Gewohnheiten bereit sein, wenn sie mit dem Beitritt
zur Europäischen Union Erfolg haben wollen.
Zur gleichen Zeit ist Asien von einer Wirtschaftskrise betroffen, die mit einem
scheinbar isolierten Problem in Thailand begann und inzwischen lawinenartig ganz
Ost- und
Südostasien erfaßt hat, krisenhafte Entwicklungen auch in Lateinamerika ausgelöst
hat und nun möglicherweise die ganze Weltwirtschaft bedroht. Die asiatische Krise
hat einen Anpassungsschock ausgelöst, der kurzfristig noch bedrohlicher erscheint
als der europäische, und der manchem den Blick für die langfristige Perspektive verstellen mag.
Wenn man bedenkt, daß noch v or kurzem die erstaunliche Entwicklung Ost- und Südostasiens
als "asiatisches Wunder" in aller Munde war, so ist es besonders eigenartig, daß
die "Gurus" unserer Zeit jetzt die Krise als "typisch asiatisch" interpretieren.
Anstatt vom asiatischen Wunder spricht man jetzt wieder einmal vom asiatischen Versagen.
Ich halte beide Ansichten für Klischees und deswegen für falsch.
Man sollte sich von den momentanen Turbulenzen den Blick für das Wesentliche nicht
trüben lassen: An der Bedeutung Ostasiens und Südostasiens für Weltpolitik und Weltwirtschaft
wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Das asiatische Wachstum fand ja nicht in einer monetären und finanziellen Luftblase statt, sondern in der realen Wirtschaft.
Es war vor allem dem hohen Ausbildungsstand der Bevölkerung, einer
großen Offenheit für technische Neuerungen und einer beispielhaften unternehmerischen
Dynamik zu verdanken. Diese Qualitäten sind nicht verlorengegangen.
Auch der in manchen Medien hochstilisierte Gegensatz zwischen westlichen und asiatischen
Wirtschaftskulturen richtet mehr Schaden an, als daß er der Erkenntnis und Problemlösung
nützlich wäre. Es gibt keine "europäische" Mathematik, keine "amerikanische" Zivilisationstheorie, keine "asiatische" Ökonomie. Jede wissenschaftliche Theorie,
die diesen Namen verdient, ist universal, so wie es die Gesetze der Logik und der
Mathematik sind. Die Wirtschafts- und Währungskrise Asiens ist also keine Kulturkrise,
sondern eine Schuldenkrise. Und Schuldenkrisen sind lösbar, wenn die internationale Wirtschaftspolitik
verantwortlich reagiert, wie es etwa bereits im Falle der mexikanischen Schuldenkrisen
der Fall war. Sie sind nur dann extrem gefährlich, wenn wirtschaftspolitische Untätigkeit sie in Depression abgleiten läßt, wie es
in der Weltwirtschaftskrise vor jetzt sieben Jahrzehnten geschah.
Die Krise in Asien hängt zwar auch mit der zumindest teilweisen Abkoppelung mancher
Märkte von den Weltmärkten zusammen; das sollte man nicht vergessen. In erster Linie
ist sie aber eine Vertrauenskrise an den internationalen Kapitalmärkten. Auf überschwengliche Begeisterung der amerikanischen und europäischen Fonds für die Wirtschaftsdynamik
der sogenannten asiatischen Tiger folgte plötzlich die fluchtartige Abkehr. Und wiederum
sage ich: Beide Verhaltensmuster waren übertrieben. Der Präsident deramerikanischen Zentralbank, Alan Greenspan, hat Überschwenglichkeit in
den Märkten zu Recht als irrational bezeichnet. Das Gleiche kann man aber auch vom
Gegenteil sagen. Auch Depression ist irrational, und ich möchte diese Feststellung
als Mahnung an die Verantwortlichen verstanden wissen, nicht nur in Asien, sondern
auch in Amerika und ebenso in Europa.
Jetzt geht es darum, das Pendel der Emotionen in die Mitte zurückschwingen zu lassen
und dort zu stabilisieren. Dazu können die asiatischen Länder selbst entscheidend
beitragen: durch verbes serte Bankenaufsicht, durch verbesserte Kapitalmarktregulierungen und insbesondere durch die Stärkung demokratischer Strukturen. Denn es ist kein
Zufall, daß gerade Korea als demokratisch strukturiertes Staatswesen die Krise offenbar
besser bewältigt als mancher andere Staat.
Das hier in Korea hervorzuheben, ist mir besonders wichtig. Das Beispiel der koreanischen
Demokratie widerlegt nämlich zugleich das bis vor kurzem noch verbreitete Klischee,
daß in Asien die Uhren anders tickten und daß der Konfuzianismus unweigerlich zu
einem fundamental anderen gesellschaftlichen und politischen System führt als anderswo.
Unterschiedliche kulturelle und historische Entwicklungen hinterlassen selbstverständlich
ihre Spuren. Aber niemand kann heute mehr behaupten, Asien sei für die Demokratie nicht geeignet oder, umgekehrt, die Demokratie sei für Asien nicht geeignet oder
gar, die Demokratie sei überhaupt ungeeignet.
Präsident Kim Dae-Jung hat selbst in einem weltweit beachteten Artikel die Verwurzelung
des demokratischen Denkens auch in der asiatischen Philosophie dargestellt. Mit Recht
hat er daran erinnert, daß in China, dem Mutterland des Konfuzianismus, zur gleichen Zeit wie im antiken Griechenland der Philosoph Menzius die Abhängigkeit des Souveräns
vom Volkswillen postulierte. Auf ähnliche kulturelle Wurzeln der Demokratie hat er
im Buddhismus und in der koreanischen Philosophie des 19. Jahrhunderts hingewiesen.
Der Durchbruch des demokratischen Gedankens, den wir seit Mitte der siebziger Jahre
in Südeuropa, seit Mitte der achtziger Jahre in Asien und Lateinamerika und schließlich
seit 1989 in Osteuropa erlebt haben, ist die wichtigste internationale Entwicklung
seit langem. Sie verläuft zwar nicht automatisch, aber doch parallel zur globalen Verbreitung
der zweiten Dimension der offenen Gesellschaft: der Marktwirtschaft. Ich glaube,
daß wir noch lange nicht am Ende des Siegeszuges von Demokratie und Marktwirtschaft angelangt sind.
Was erklärt diesen Siegeszug der offenen Gesellschaft? Politologen können darüber
Bände füllen. Ich will nur fünf Gründe nennen: Der erste ist das natürliche Streben
aller Menschen nach Mitbestimmung im politischen Geschehen und nach Zugang zum Wohlstand.
Das erste bietet am unmittelbarsten die Demokratie, das zweite bietet am unmittelbarsten
die Marktwirtschaft.
Aber die offene Gesellschaft entspricht nicht nur einer in allen Kulturen bestehenden
natürlichen Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Selbstverwirklichung. Es gibt,
zweitens, auch einen ganz funktionalen Vorteil dieser Gesellschaftsform, nämlich
das Prinzip des Wettbewerbs der Ideen. Dieses Prinzip macht sowohl die Demokratie als auch
die Marktwirtschaft zu einem institutionalisierten Entdeckungsprozeß. In der Demokratie
geht es um die Suche nach der besten Lösung politischer Probleme, in der Marktwirtschaft geht es um die Entdeckung der besten Produkte zu niedrigsten Preisen.
Das Prinzip des Wettbewerbs schließt drittens soziale Solidarität und freiwillige
Zusammenarbeit keineswegs aus. Ich weiß, daß das enge Zusammenwirken zwischen Staat,
Unternehmen und Banken in asiatischen Ländern von westlichen Beobachtern oft als
Korporatismus kritisiert wird. Aber ich bin auch hier für ein differenziertes Urteil. Auch
in Deutschland, in Europa und sogar in Amerika gibt es Formen der Zusammenarbeit
zwischen wichtigen öffentlichen und privaten Partnern der Volkswirtschaft. Diese
Zusammenarbeit hat Früchte getragen - in Deutschland etwa durch ihren Beitrag zu einem konfliktarmen
Interessensausgleich der Sozialpartner und in den USA zur Absicherung langfristiger
Entwicklungsstrategien in der Mikroelektronik. Aber: Enges Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft birgt auch die Gefahr, daß es zu Fehlentwicklungen kommt und diese
zunächst einmal verschleiert werden. Und sie funktioniert auch nicht, wenn sie nicht
durch eine soziale Komponente und eine starke Interessenvertretung der Arbeitnehmer
ergänzt wird.
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