Die Zukunftsfähigkeit des Landes sichern.
Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Delegiertenversammlung des
deutschen Einzelhandels am 19. Oktober 1999 in Bonn:
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
verehrter Präsident Franzen,
zunächst: ich bin Ihnen dankbar für die sehr, sehr freundliche Geste, den Sohn meines
früheren Lehrherren einzuladen und danke ihm natürlich für sein Kommen.
Zunächst bedanke ich mich sehr, Herr Präsident Franzen, für die nicht unkritische,
aber solidarische Rede insoweit, als Sie gesagt haben: Wir wollen doch. einmal sehen,
ob wir einen wichtigen Teilbereich unserer Gesellschaft, nämlich den, für den Sie
stehen, nicht eher im Dialog als kontrovers regeln können. Das ist hilfreich - das will
ich Ihnen ausdrücklich sagen -, weil das auch meine Auffassung ist. Was wir zusammen
hinkriegen können - wenn ich "zusammen" sage, meine ich unter Einbeziehung der Gewerkschaften, mit deren Mitgliedern und Betriebsräten Sie auch auszukommen haben -, sollten
wir auch zusammen machen.
Ich werde die einzelnen Themen, die Sie genannt haben, abarbeiten, will mich aber
zunächst mit dem, was Sie zur Situation im deutschen Einzelhandel und zur konjunkturellen
Situation insgesamt gesagt haben, befassen:
Nach meinen Zahlen ist die Situation besser, als Sie sie dargestellt haben. Im Herbst
letzten Jahres haben die Wirtschaftsweisen gesagt, Deutschland stünde vor einem Aufschwung
zwischen Hoffen und Bangen. Heute, knapp ein Jahr später, überwiegt in der gesamten Wirtschaft die Zuversicht. Die deutsche Wirtschaft - die europäische auch, aber
speziell die deutsche Wirtschaft - befindet sich durchaus auf Erholungskurs. Die
weltwirtschaftlichen Turbulenzen sind tendenziell überwunden. Das gilt für Asien,
gilt aber auch für Südamerika. Aus diesen Gründen gewinnen die Exporte an Schwung. Die Inlandsnachfrage
erholt sich von jahrelanger Schwäche. Unternehmensinvestitionen und privater Verbrauch
nehmen zu. Man kann auch sagen, dass die Stimmung in der Wirtschaft sich von Monat zu Monat verbessert.
Dies kommt - jedenfalls nach meinen Zahlen, vielleicht müssen wir sie abgleichen -
auch dem Einzelhandel zugute.
So konnte im ersten Halbjahr nach Jahren des Rückgangs und der Stagnation ein bescheidenes,
aber immerhin ein Umsatzplus von real 0,9 Prozent erwirtschaftet werden. Das ist
kein Grund zum Jubeln - wirklich nicht. Aber immerhin zeigt das, dass die jahrelange negative Tendenz gestoppt und ein wenig umgedreht werden konnte. Ich halte das für
ein positives Signal. Wenn Wirtschaftspolitik - auch über die Anteile kann man ja
streiten -, auch Psychologie ist, dann sollte man das auch sagen, weil das beispielgebend sein könnte.
Wenn es im zweiten Halbjahr so kräftig aufwärts geht, wie die Institute erwarten,
können und werden wir ein gesamtwirtschaftliches Wachstum von 1,5 Prozent - wenn
es ganz gut läuft, vielleicht darüber - erreichen.
Für 2000 ist nach Auffassung aller Wirtschaftsforschungsinstitute, eingeschlossen
die Research-Institute der Banken, ein wirtschaftliches Wachstum von 2,5 Prozent
bis 3 Prozent realistisch vorausgesagt. Diese positiven Wachstumserwartungen verbessern
natürlich - und darauf kommt es uns vor allen Dingen an - die Chancen, Beschäftigung aufzubauen.
Ich will mich deshalb mit der Frage auseinandersetzen, was denn auch für Ihren Sektor
die Bundesregierung tun kann, um diese beginnende Wachstumsdynamik zu unterstützen.
Sie haben sich, Herr Präsident Franzen, selber mit dem Zukunftsprogramm auseinandergesetzt.
Worum geht es uns dabei? Dieses Programm hat drei Aspekte:
Es hat erstens den Aspekt der Konsolidierung der staatlichen Haushalte auf allen Ebenen,
was uns angeht auf der Ebene des Bundes. Die Frage, die uns durchaus gestellt wird,
ist: Warum spart ihr?
Gegenwärtig - ich weiß nicht, wie viele gekommen sind - demonstrieren beide Beamtenvertretungen
in Berlin. Sie demonstrieren, weil wir gesagt haben: Für die nächsten zwei Jahre
können wir euch nur einen Inflationsausgleich bezahlen. Ich halte das für vertretbar. Ich weiß, das macht dem einen oder anderen Schwierigkeiten. Aber ich halte
das für vertretbar. Es ist ein Teil einer Konsolidierungsstrategie, die endlich funktionieren
muss. Ich will mich über andere Erwartungen der Betroffenen nicht hinwegsetzen, aber wir können nicht so handeln, dass immer dann, wenn ein Verband, wie wichtig er
auch sei, gegen eine Maßnahme protestiert - und das muss er in einer Demokratie dürfen,
wenn er die Interessen seiner Mitglieder vertritt -, wir sagen: Wir nehmen das zur
Kenntnis und ändern unsere Position. Wir werden sie nicht ändern, weil Konsolidierung,
weil Sparen nicht um des Sparens willen gemacht wird.
Nein, es hat etwas mit Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zu tun, auf die Sie
hingewiesen haben, Herr Präsident Franzen. Zukunftsfähigkeit heißt hier, dass wir
von einem Schuldenberg von 1,5 Billionen D-Mark herunter müssen. Wir zahlen 82 Milliarden
D-Mark jedes Jahr an Zinsen, und zwar ohne Tilgung. Ich stelle mir vor, was wir alles
machen könnten, wenn wir ein Drittel oder gar die Hälfte dieser gewaltigen Summe
politisch verfügbar hätten. Wir könnten sogar große Teile Ihrer Erwartungen hinsichtlich
der Steuerreform finanzieren. Ich komme darauf zurück.
Ich hoffe, es wird deutlich, dass dieser Schuldenberg - aufgehäuft seit 1982, wo wir
noch - 300 Milliarden D-Mark hatten - natürlich auch mit der Notwendigkeit zu tun
gehabt hat, die deutsche Einheit zu finanzieren. Was das Schuldenmachen angeht, ist
aber das Ende der Fahnenstange erreicht, weil wir als jetzt lebende Generation damit aufhören
müssen, das zu verfrühstücken, was unseren Kindern und Enkeln zukommt. Es geht nicht
mehr. Ich sage es noch einmal: Ich will nicht einfach die Verantwortung auf die anderen schieben. Wir haben auch gesündigt - gar keine Frage. Aber wenn das so ist,
dann muss man im Land begreifen, dass jetzt Schluss ist und wir wirklich eine Konsolidierungspolitik
einleiten müssen, und zwar nicht um ihrer selbst willen, sondern um die Zukunftsfähigkeit des Landes sicherzustellen. Dies geschieht, und daran werden keine
Abstriche gemacht.
Das ist der eine Teil, der national begründet ist. Es gibt aber auch einen Teil, der
international begründbar ist und begründet werden muss und der auch in Richtung Konsolidierung
geht. Wir haben im Februar den Europäern gemeldet, dass Deutschland im Jahr 2000 ein Budgetdefizit von 2 Prozent nicht überschreiten werde. Das hat der damalige
Finanzminister den Brüsselern geschrieben - das war noch nicht Hans Eichel.
Erinnern wir uns einmal, was auf den Finanzmärkten, was beim Euro passierte, als Italien
um eine Ausnahme von dem seinerzeit gemeldeten Budgetdefizit nachkam und diese Ausnahme
auch erhielt. Das mag die Exporteure gefreut haben, aber auf Dauer war das kein guter Zustand. Das hat sich Gott sei Dank gebessert. Also ist doch wohl klar, dass
dann, wenn Deutschland um eine solche Ausnahme vom Budgetdefizit nachkäme, wirklich
der Teufel auf den Finanzmärkten los wäre.
Auch deshalb - aber nicht nur deshalb - müssen wir Haushaltsdisziplin üben, weil wir
sozusagen unser in Brüssel gegebenes Wort als die stärkste Volkswirtschaft innerhalb
der Euro-Gruppe nicht brechen dürfen. Übrigens dürfen wir das nicht aus noch einem
anderen Grund: Die Fachleute hier wissen alle, dass es eine. enge Beziehung zwischen
der objektiven Möglichkeit einer Europäischen Zentralbank gibt, die Zinsen niedrig
zu halten, und dem Maß an Haushaltsdisziplin, das es im Währungsraum gibt. Auch damit
die Europäische Zentralbank in Unabhängigkeit, aber auch in Verantwortung für konjunkturelle
Entwicklung, für Wachstum Zinsen niedrig halten kann, müssen die Mitgliedstaaten
- jedenfalls die in der Euro-Zone, besser die anderen auch -
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