BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG

Nr. 65-2 vom 3. Oktober 2000

Rede des Präsidenten des Bundesrates und Ministerpräsidenten

des Freistaates Sachsen, Prof. Dr. Kurt Biedenkopf,



zum zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2000 in der Semperoper in Dresden

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrter Herr Präsident Chirac,
sehr geehrte Frau Präsidentin Halonen,
Exzellenzen,
sehr geehrte Festversammlung,
liebe Bürgerinnen und Bürger aus West und Ost,

nachdem Maestro Sinopoli Sie bereits mit der Musik von Carl Maria von Weber begrüßt hat, heiße ich sie nun herzlich willkommen zum zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit, zum Fest der Deutschen, in Dresden. Mit Ihnen gemeinsam und mit allen Deutschen wollen wir das Geschenk der Deutschen Einheit feiern. Wir ehren mit diesem Fest alle, die halfen, den Weg zur Einheit zu öffnen: In Deutschland und in Eu-ropa. Wir vergewissern uns unserer nationalen Gemeinsamkeit. Wir ziehen an diesem Tage Bilanz und freuen uns über die Ergebnisse gemeinsamen Schaffens. Und wir richten den Blick in die Zukunft und auf die Aufgaben, die sie uns stellt: Zum Wohle des eigenen Landes und zum Wohle Europas, dessen Teil wir sind.

Wie kaum ein Ort erinnert uns Dresden an die friedliche Revolution im Herbst 1989, die Diktatur und Mauer überwand und das Tor zur Einheit öffnete. Unvergessen sind die Demonstrationen in Dresden, die Montagsdemonstrationen in Leipzig und in vielen anderen sächsischen Städten. Von hier griff die friedliche Revolution auf ganz Ost-deutschland über. Viele Namen tapferer Bürgerinnen und Bürger sind uns in Erinnerung geblieben. Sie stehen für Hunderttausende, die ihre Angst überwanden und Freiheit begehrten. Hier in Dresden sprach der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 zu über hunderttausend Menschen vor der Ruine der Frauenkirche. Von dort ging die Botschaft in die Welt: Die Deutschen sind auch nach 45 Jahren der Trennung eine Nation geblieben. Sie sind ein Volk und wollen als ein Volk in einem geeinten Deutschland leben. Die Botschaft der Menschen lautete: Wir wollen die Freiheit, denn wir sind das Volk. Wir wollen die staatliche Einheit, denn wir sind ein Volk. Wir wollen die Überwindung von Diktatur und Vormundschaft. Aber wir wollen, dass sie sich friedlich vollzieht. Wir wollen keine Gewalt. Und wir wollen die Einheit der Deutschen in einem geeinten Europa.

Seit Adenauer war unbestritten: Die deutsche Einheit kann sich nur im Rahmen der europäischen Einheit vollenden. Das Haus Deutschland, unser gemeinsames Haus, muss unter einem europäischen Dach gebaut werden", das war Helmut Kohls Dresdner Botschaft. Und, so können wir hinzufügen: Dieses Haus muss ein Haus der Vielfalt in der Einheit sein. Was die bundesstaatliche Einheit Deutschlands in Europa ist, das ist die bundesstaatliche Vielfalt in Deutschland: Ausdruck der Besonderheit der deutschen Nation in Europa und des Reichtums ihrer Regionen im Inneren.

Weil sich beides auf dem Weg zur Einheit vollenden konnte: Deshalb vor allem haben unsere Nachbarn die Wiedervereinigung begrüßt und das geeinte Deutschland im geeinten Europa willkommen geheißen. Das Vertrauen, das sie uns entgegenbrachten, war die Frucht der deutschen Politik: Grund gelegt durch Konrad Adenauer, nach Osten erweitert durch Willy Brandt, fortgeführt und vertieft durch Helmut Schmidt und zum deutschen und europäischen Ziel geführt durch Helmut Kohl. All dies konnte nur gelingen, weil Deutschland in Frankreich einen Freund und Partner fand, der unseren Weg aus der Katastrophe in die europäische Gemeinschaft begleitet und mitgestaltet hat.

Ich freue mich deshalb ganz besonders, den Präsidenten der französischen Republik, Jacques Chirac, an unserem Nationalfeiertag als Gast und Festredner begrüßen zu dürfen. Schon am Tage nach dem Mauerfall erklärten Sie, Herr Präsident: Wir wären keine echten Europäer, wollten wir Europa nur mit einem Teil Deutschlands errichten". Wir danken Ihnen dafür, dass Sie als Repräsentant unseres größten und wichtigsten Nachbarn, des französischen Volkes und seiner Nation, und als derzeitiger Präsident der Europäischen Union an unserer Feier teilnehmen. Kein Volk hat in den letzten zwei Jahrhunderten so viel Einfluss auf die deutsche Geschichte und den Weg der Deutschen zu einem deutschen Nationalstaat genommen wie die französische Nation. Es waren die Ideen und Ideale der französischen Revolution, die auch die Deutschen auf ihren Weg zu einem demokratischen und liberalen Staat wiesen. Wann immer sie sich auf den politischen Wert der Bürgerrechte und Demokratie besannen und sich von ihnen leiten ließen, schufen sie die besten Zeugnisse ihrer nationalen Bewegungen. Wann immer die Deutschen versuchten, den Nationalstaat ohne diese Ideen und Ideale zu schaffen, endeten sie in Krieg und Zerstörung.

Auch unseren Nachbarn im Osten und Süden boten die Ideen der Aufklärung und der französischen Revolution Hoffnung und Zuversicht in Zeiten der kommunistischen Unterdrückung. Aus ihnen und dem eigenen Willen zur Freiheit schöpften sie den Mut und die Kraft zum Widerstand letztlich zur Überwindung der Fremdherrschaft. Ihre Beispiele waren Quelle der Zuversicht auch für die Deutschen in der DDR. Und deshalb freue ich mich, zahlreiche Repräsentanten dieser, unserer Nachbarn und weiter-gelegener Länder begrüßen zu können.

Freiheit ist möglich, lautete die Botschaft aus Prag, aus Danzig und aus Budapest. Für diese Botschaft danken wir auch heute. Sie hat uns auf dem Weg zur Einheit begleitet und gestärkt. Die Botschaft der Freiheit und der Wille zum Frieden sind zugleich das Fundament der Einheit Europas. Es erwuchs aus dem historischen Friedenswerk der Nachkriegszeit. Jean Monnet, Robert Schumann, Konrad Adenauer, Alcide De Gasperi haben es begründet. Charles de Gaulle hat es in der Kathedrale von Reims mit Konrad Adenauer als die unkündbare Grundlage französisch-deutscher Partnerschaft in Europa besiegelt. In den kommenden Jahren werden wir dieses Fundament mit unseren Nachbarn im Osten und Süden erweitern. Die europäische Rechts- und Friedensord-nung wird dann endgültig auch ihre Ordnung werden.

Mit der Erweiterung der Europäischen Union ist uns eine große Aufgabe gestellt. Die Bürger in Sachsen kennen die Bedeutung dieser Aufgabe. Im Herzen Europas beheimatet wissen sie auch, wie unvollständig das Erreichte noch ist. Von Dresden zur tschechischen Grenze sind es rund vierzig Kilometer. Von hier bis zur Grenze unseres polnischen Nachbarn ist es weniger als eine Stunde Autofahrt. Mit beiden Nationen hat Sachsen eine gemeinsame 570 Kilometer lange Grenze. Beide sind östliche Nachbarn ganz Deutschlands. Europa endet nicht an diesen Grenzen. Unbestritten umfasst der abendländische Kulturraum neben Polen und Tschechien die Staaten Slowakei, Ungarn, Slowenien und die baltischen Länder, um nur einige zu nennen. Die Europäische Union braucht diese Länder und ihre Menschen, mit ihrer Erfahrung, ihrem Wissen, ihrer Geschichte und ihrem kulturellen Reichtum. Vermeiden wir es deshalb bei den Beitrittsverhandlungen, die Würde dieser Völker zu beschädigen. Suchen wir gemeinsam den richtigen Mittelweg zwischen Anpassung an die europäischen Normen und an die Besitzstände einerseits und der Achtung nationaler Identitäten andererseits.

Die Beitrittsverhandlungen führen uns noch einmal deutlich vor Augen, von welch tiefgreifenden Umbrüchen Osteuropa und der Osten Deutschlands vor zehn Jahren erfasst wurden und welches Glück wir Deutschen hatten. Aber es war nicht nur Glück. Es waren auch der Mut und das Können der neugewählten Bürgermeister und Landräte, der demokratisch gewählten Volkskammer und der letzten Regierung der DDR, die den Übergang in die Einheit mit Anstand und Würde klug herbeiführten. Deshalb freue ich mich, Sie, Herr Lothar de Maizière, unter uns begrüßen zu können.

Dass wir in den ostdeutschen Ländern so große Erfolge beim Wiederaufbau erzielen konnten, ist dem Aufbauwillen der Menschen in Ostdeutschland und der eindrucksvollen Solidarität unserer westdeutschen Bürgerinnen und Bürger geschuldet. Wir können stolz sein auf das Erreichte, auch wenn wir in den zurückliegenden Jahren nicht alle Ziele haben verwirklichen können. Ob nun die Hälfte oder zwei Drittel des Weges bewältigt sind, spielt dabei eine eher zweitrangige Rolle. Entscheidend ist der Wille, auch in den kommenden Jahren den erfolgreichen Weg weiterzugehen. Auf beides Aufbauwille und Solidarität werden wir auch in den nächsten Jahren angewiesen sein.

Deshalb danken wir den Verantwortlichen auf Bundes- und Länderebene für ihre Bereitschaft, den Solidarpakt und damit die Grundlage für den Aufbau Ost fortzusetzen. Die Menschen sehen in dieser Bereitschaft nicht nur eine Anerkennung ihrer bisherigen Leistungen. Sie sehen darin auch das Fundament für die Anstrengungen, die in den nächsten Jahren von ihnen gefordert werden und bewältigt werden müssen. Zugleich wissen sie, dass es die Anstrengungen aller Deutschen sind, die uns auf dem Weg der Einheit weiter voranbringen. Zwar leiten uns noch unterschiedliche Lebenserfahrungen.

Aber die meisten von uns, am ehesten die Jüngeren, haben die Einheit längst innerlich vollzogen. Was uns heute unterscheidet, ist immer weniger die Vergangenheit. Zunehmend sind es mehr die Vielfalt und Verschiedenheit deutscher Regionen, die uns Deutschen schon immer eigen war, verbunden in der Gemeinschaft einer Nation.

Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 hieß es in der Präambel ...von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk dieses Grundgesetz ... beschlossen". Heute heißt es in der Präambel unserer Verfassung: ... von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk ... dieses Grundgesetz gegeben".

Der Auftrag, die Einheit zu verwirklichen, ist erfüllt. Deutschland ist zum gleichberechtigten Glied in einem vereinten Europa geworden. Die deutsche Nation ist eine Nation im geeinten Europa. Was in den Wirren der Kriege und Katastrophen begann, vollendet sich im zwanzigsten Jahrhundert in der Einheit Europas in Frieden. In diesem Europa hat das vereinte Deutschland seinen Platz gefunden. Auch dafür danken wir am Tag der Deutschen Einheit.

Verehrte Festversammlung, ehe ich das Pult weitergebe, möchte ich einige wenige Sätze aus dem Grußwort verlesen, dass uns der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, aus Anlass des zehnten Jahrestages der Deutschen Einheit gesandt hat. Es beginnt: Die Vereinigung von Ost- und Westdeutschland am 3. Oktober 1990 war ein Ereignis, das Deutschland, Europa und die Welt verändert hat. Sicherlich war der Einigungsprozess mit ernsten wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Schwierigkeiten verbunden und der monumentale Übergang von einer Zentralplanungswirtschaft zur Marktwirtschaft, der sich in Ostdeutschland vollzog, war auch von großem Leid und Opfern begleitet. Doch hege ich keinen Zweifel daran, dass sich die unbeirrte Entschlossenheit des deutschen Volkes letztendlich für alle auszahlen wird."


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