"Die Gefahr eines dritten Weltkriegs"
Der Moskauer Oberbürgermeister und mögliche Präsidentschaftskandidat Jurij Luschkow
über Rußlands Rolle auf dem Balkan, das Scheitern der Nato und Wege aus dem Kosovo-Desaster.
Journalist:
Jurij Michailowitsch, wie beurteilen Sie die Lage im Kosovo?
Luschkow:
Die absolute Mehrheit der Bürger Rußlands ist der Auffassung, daß das Vorgehen der
Nato dort eine Aggression darstellt. Aber die meisten Russen halten auch das Verdrängen
der Albaner aus dem Kosovo für unakzeptabel. Für viele Politiker in Rußland, die
selbständig denken können, ist Milosevic durchaus keine politische Figur auf die man setzen
sollte. Die ersten Bombenschläge gegen Jugoslawien haben doch überhaupt nicht dazu
geführt, daß die Vertreibung von Kosovo-Albern nachließ. Im Gegenteil: Seit dem Beginn der Bombardements ist die Zahl der Flüchtlinge im und aus dem Kosovo auf eine Million
gestiegen. Das Problem Jugoslawien kann durch Bombardierung, ganz gleich, wie lange
sie anhalten mag, nicht gelöst werden. Wenn die Nato mit Bodentruppen einmarschiert, bedeutet das eine Riesengefahr. Amerika wird versuchen, die Aktion den europäischen
Nato-Partnern aufzubürden. Das kann dazu führen, daß eine Art zweites Vietnam in
Europa entsteht.
Im Zweiten Weltkrieg hat Hitler 15 Divisionen nach Jugoslawien geschickt. Darüber
hinaus waren 15 italienische Divisionen und 10 ungarische Brigaden an der Invasion
beteiligt. Wie war der Preis dieses Krieges? Allein im Jahr 1945 hat Deutschland
auf dem Balkan noch über 100 000 Soldaten verloren.
Ich muß mit Bedauern feststellen, daß sich Rußlands Haltung durch eine Invasion grundlegend
ändern könnte. Rußland wird dann gezwungenermaßen seine Haltung zum Waffenembargo
revidieren. Auch bei einer solchen Wendung würde sich Rußland wohl nicht mit militärischen Einheiten oder Freiwilligen an diesem Krieg beteiligen. Aber militärisch-technische
Hilfe für Jugoslawien wird in einem solchen Fall durchaus denkbar. Ich bin entschieden
dagegen, daß Rußland in diesen Konflikt verwickelt wird, nicht einmal auf dem Weg über das von manchen angestrebte Staatenbündnis Rußland-Belorußland-Jugoslawien.
Niemand sollte Rußland zu solchen Handlungen provozieren. Nach meiner Vorstellung
sollte Rußland jetzt für eine Verhandlungsrunde gewonnen werden, in der es eine einheitliche Position zu erarbeiten gilt. Deren zentrale Punkte müßten sein: Rückkehr der
Flüchtlinge nach Kosovo und Druck auf Milosevic.
Hätte man auf die Stimme Rußlands gehört, wären Bombardements gar nicht erst notwendig
geworden. Durch gemeinsamen wirtschaftlichen, politischen und moralischen Druck auf
Milosevic hätte sich eine Regelung des Kosovo-Problems erzwingen lassen. Nun beginnen die Folgen der Nato-Aktivitäten ein dramatisches Ausmaß anzunehmen: Die Nato-Maßnahmen
hatten Menschen retten sollen, statt dessen beginnen nun die Opferzahlen auf ein
Vielfaches zu steigen. Gerade erst meldeten die Medien, daß eine albanische Flüchtlingskolonne bombardiert worden ist. Das muß man sich vorstellen: Flüchtlinge werden von
Flugzeugen unter Beschuß genommen. Ich sehe darin einen grundlegenden Wandel der
Nato-Militärpolitik. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt waren die Bombenangriffe gegen
militärische Ziele gerichtet gegen Stäbe, Flughäfen, konzentrierte Rüstungstechnik, also
gegen Milosevics Kriegsmachinerie. Jetzt wird das jugoslawische Volk bombardiert:
Eisenbahnzüge, Straßen, Brücken, Tabakfabriken.
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