"Wir sind alle Feiglinge"

Der französische Filmstar Juliette Binoche über die Malerei, seine Liebe zum Theater und seinen neuen Film "Code: unbekannt"

Journalist: Madame Binoche, in "Code: Unbekannt" zeigt der Regisseur Michael Haneke Paris als kalte, ungastliche Stadt, in der die Menschen gleichgültig bis aggressiv miteinander umgehen. Hat es sie gestört, dass ein ausländischer Filmemacher sich dieses Urteil über Ihre Heimatstadt anmaßt?

Juliette Binoche: Nein, für mich hat sein Blick etwas sehr Ehrliches. Er ist vielleicht pessimistisch wie ein Blick in den Spiegel, bei dem man feststellt, dass man nicht so schön ist, wie man gern glauben möchte. Aber immerhin ist man aufrichtig zu sich selbst. Wenn man nicht versucht, die Wirklichkeit zu beschönigen, hat das seinen eigenen Wert. Haneke ist nicht darauf aus, Erwartungen zu erfüllen, er will den Zuschauern nichts verkaufen. Er zeigt ihnen die dunklen Seiten unserer Welt und zwingt sie, darauf zu reagieren. Er will sie aufrütteln. Seine Haltung ist sehr direkt, und das respektiere ich. Das heißt nicht, dass ich seinen Pessimismus immer teile. Aber er ist sehr mutig, und es gibt nicht viele mutige Regisseure. Die meisten überziehen ein wenig bittere Wahrheit mit viel Zuckerguss, so dass sich die Zuschauer am Ende gut fühlen. Haneke dagegen benutzt das Kino, um seine Überzeugungen zu transportieren. Darum muss es doch gehen. Märchen sind ja schön und gut, aber es ist doch wichtig, Filme auch als Reflexion darüber zu nutzen, wer wir sind und in welcher Gesellschaft wir leben.

Ich spiele Anne, eine junge Frau, die weiß, dass ein Kind in der Nachbarwohnung misshandelt wird, und nichts dagegen unternimmt. Schließlich ist die Kleine tot. Anne war ein Feigling, sie hat nicht eingegriffen. Sie zeigt ein Verhalten, das wir alle von uns selbt kennen: Etwas beunruhigt uns, aber wir wissen nicht, wie wir damit umgehen sollen, und darum verschließen wir Augen und Ohren. Als Anne die Schreie durch die Zimmerwand hört, fühlt sie sich überwältigt, aber zugleich überlegt sie: Ich bin allein, begebe ich mich in Gefahr, wenn ich etwas unternehme? Ich glaube zwar, dass ich etwas unternehmen würde wenn ich dieser Situation wäre, aber ich könnte es nicht beschwören. Auf der Straße sind wir alle dauernd Feiglinge, wir schauen weg, wenn wir Unrecht sehen, aber heißt das, dass wir niemals eigreifen würden? Das sind Fragen, die wir einander stellen müssen, und jeder muss seine eigene Antwort finden.

Ich wollte ganz am Anfang eigentlich Bühnenschauspielerin werden. Am Theater liebe ich, dass es immer in der Gegenwart stattfindet. Auf der Bühne herrscht ein ewiges Jetzt. Die Einzigartigkeit jedes Auftritts und die Ewigkeit treffen aufeinander, und diese Verbindung ist großartig. Auf der Bühne ist man nie fertig, die Arbeit geht immer weiter. Bei der vorletzten Vorstellung von "Naked" konnte ich plötzlich die Essenz dessen spielen, was ich schon die ganze Zeit hatte ausdrücken wollen. Es durchfuhr mich einfach, ohne dass ich es beabsichtigt hätte. Solche Augenblicke sind kostbar.


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