mein austritt aus der sozial­demo­kratischen partei deutschlands

Berlin, 14. März 2021

Liebe Genoss:innen,

ich habe mit Zugang vom 16.3. gegenüber dem Kreisvorstand der SPD Pankow meinen Austritt aus der Partei erklärt. Ich möchte Euch meine Gründe dafür erklären.

I.

Meine Tätigkeit und Mitgliedschaft in den Jusos und in der SPD habe ich gegenüber mir selbst lange mit der Doppelstrategie gerechtfertigt, die seit der „Linkswende“ 1969 Bestandteil der Juso-Programmatik ist, und habe sie in meinem Sinn ausgelegt: dass die sozialistische Revolution nicht im Parlament beschlossen werde; gleichwohl es notwendig sei, die Bedingungen innerhalb der bestehenden Ordnung durch Einflussnahme auf den parlamentarischen Betrieb zu verändern – Verbesserungen zu erkämpfen und Verschlechterungen abzuwenden –, und dass diese Einflussnahme nur über die parlamentarischen Parteien möglich sei, von denen man um die SPD für linke Bündnisse nicht herumkäme. Das hieße also die Doppelstrategie: das gesellschaftliche linke Bündnis auf der einen Seite und das instrumentelle Verhältnis zur SPD auf der anderen Seite.

Eine solche Doppelstrategie lebt von bestimmten Voraussetzungen: erstens, dass die Bemühung um das gesellschaftliche linke Bündnis und die Bemühung darum, von linken Bündnispartner:innen als eine zuverlässige ebensolche Bündnispartnerin wahrgenommen zu werden, wenigstens ebenso groß ist wie die in irgendeiner Weise praktizierte Parteitreue; zweitens, dass der Verband gegen die falsche Politik der SPD in innerparteilicher Opposition bleibt, statt diese zu unterstützen; und drittens, dass die aus der Beteiligung an der SPD folgende Unterstützung der SPD einen geringeren Schaden verursacht als durch die Beteiligung abgewendet werden kann.

II.

Keine dieser Voraussetzungen trifft soweit noch zu. Was mich schon seit langem sehr enttäuscht, ist, dass die Jusos sich überhaupt keine Gedanken darüber machen wollen, ob und in welcher Form eine Beteiligung an der SPD noch Sinn ergibt. Weder persönlich noch in der (Verbands-)Öffentlichkeit. Die Jusos nennen sich Sozialist:innen, aber sie weigern sich, politische Konsequenzen aus dem Sozialist:innen-Sein zu ziehen. Die Strategiefrage, wie lange ein Wirken innerhalb der SPD noch sinnvoll sein kann, wird nicht kollektiv gestellt und kann schon statutengemäß nicht beantwortet werden; sie lässt sich nur individuell stellen und individuell beantworten (austreten oder nicht austreten).

Im September werden die Wahlen zum Bundestag und in Berlin zum Abgeordnetenhaus stattfinden. Auf Bundesebene tritt für die SPD Olaf Scholz (Agenda, Brechmitteleinsätze, G20) an; im Land Berlin, dort also, wo mit der rotrotgrünen Koalition die Zukunftshoffnung der Parteilinken praktiziert wird, Franziska Giffey, die bereits vor ihrer Nominierung ihre Absichten erklärte, sich von mieter:innenfreundlicher Politik ab- und zu einer autoritären Sicherheitspolitik hinzuwenden, und die als Gegnerin des rotrotgrünen Regierungsprojekts gilt. – Was soll man also noch Vernünftiges in einem Jugendverband machen, der mittels Wahlkampfes im Ergebnis die Hinwendung der SPD Berlin zu Polizeistaat und antisozialer Wohnungspolitik mitmacht (selbst dann, wenn er die Entwicklung inhaltlich ablehnt)?

Hinzu kommt das Verhalten von Juso- und SPD-Landesverband um das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, dem ersten aussichtsreichen Vorhaben einer Sozialisierung eines so erheblichen Wirtschaftsbereiches seit Jahrzehnten, über das im September, die nötigen Unterschriften vorausgesetzt, ebenfalls abgestimmt wird. Während die Jusos zunächst vor einer Unterstützung zögerten, sich dann immerhin halbherzig dazu durchringen konnten, eine formale Unterstützung zu beschließen (vielleicht ein kleiner Erfolg zum Abschluss meiner Juso-Zeit) – nicht jedoch, zu beschließen, diese Unterstützung auch umzusetzen, also für den Volksentscheid zu werben –, wird das Volksbegehren von der SPD vielmehr politisch bekämpft.

„Man darf nicht Parolen verkünden, an die man nicht glaubt. Die Scheu vor der Wahrheit führt zum Selbstbetrug. Man darf nicht der Wirklichkeit, die anders sich zeigt, als man sie wünschte, ausweichen und sich entschuldigen, so war es nicht gemeint.“ – Das ist die wahrscheinlich treffendste Kritik der Jungsozialist:innen. (Ich habe sie mir von Ernst Toller ausgeliehen, der sie vor dem Hintergrund formulierte, dass die Mehrheitssozialdemokratie, die sich selbst sozialistisch nannte, der Münchner Räterepublik die Unterstützung versagte.) Und je länger man bei den Jusos aktiv ist, je tiefer man in der Jugendorganisation drin ist, desto mehr verliert man die Fähigkeit, die Ansprüche des eigenen politischen Handelns an der Wirklichkeit zu überprüfen.

III.

Die seit Anfang Februar medial wie parteiintern geführte Diskussion um meinen Twitter-Account bringt neben vielem anderen wohl den Nachteil mit sich, dass ich nicht mehr austreten kann, ohne dass meine Austrittsentscheidung mit dieser Diskussion in Verbindung gebracht würde. Ich kann Euch versichern, dass diese Diskussion keinen Einfluss auf meine Austrittsentscheidung genommen hat. Spätestens seit September vergangenen Jahres war mir klar, dass mein Austritt keine Frage des Ob, sondern nur noch eine des Wann ist.

In den vergangenen Wochen gab es viele Genoss:innen, die mich solidarisch unterstützt haben. Ich möchte mich bei all diesen Genoss:innen ausdrücklich dafür bedanken.

Zugleich wird es einige Juso- und Parteimitglieder geben, die schon seit langem darauf hingefiebert haben, mich endlich loszuwerden. Diese sind mir herzlich egal.

IV.

Seit langem habe ich mir Gedanken über die Austrittsfrage gemacht. Jetzt habe ich die Konsequenz gezogen. Ich bin kein Mitglied der SPD mehr. Es fühlt sich befreiend an.

Während meiner Zeit bei den Jusos habe ich Genoss:innen und Freund:innen kennengelernt, die ich sehr schätze und denen ich für ihre Unterstützung danken möchte. Auch mein Kreisverband, die Jusos Pankow, ist immer ein Ort gewesen, an dem ich mich wohl gefühlt habe.

Und einige von Euch werde ich ja sicherlich an anderen politischen Orten wiedersehen. Hoffentlich auf derselben Seite der Barrikade.

Sozialistische Grüße

Bengt Rüstemeier

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