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Poesie und Konspiration.
Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur, Wissenschaft 1750 – 1850 |
Verschwörungstheorien
faszinieren. Schon im 17. Jahrhundert zirkulieren
Vorstellungen vom vermeintlich omnipotenten Jesuitenorden und seinen
globalen
Unternehmungen. Die Publizistik des 18. Jahrhunderts observiert
misstrauisch
die zahlreichen Arkangesellschaften, die das Zeitalter der
Aufklärung
kommunikativ bestimmen und fahndet nach dem geheimen Gang
menschlicher
Machinationen. „Unbekannte Obere“ sind scheinbar omnipräsent;
„verlarvt“
und mit „unsichtbarem Gift“ lenken sie die schlechten Geschicke oder
planen
den Umsturz der bestehenden Ordnung. Als im Juli 1789 die Pariser
Bastille
gestürmt wird, gibt es keine Zweifel mehr: Hinter dieser
revolutionären
Eruption muss ein heimliches Planungszentrum mit
überwältigender
ideeller und organisatorischer Logistik stecken. –
Verschwörungstheorien
entstehen aber nicht nur zur Deutung konfessions-
und gesellschaftspolitischer Vorgänge. Im sich
ausdifferenzierenden
Kunst- und Wissenschaftssystem erlauben sie die scheinbar plausible
Erklärung
einer individuenübergreifenden Zustimmung zu
Geltungsansprüchen,
die beobachtenden Opponenten so neuartig und deviant erscheinen, dass
die
Solidarität ihrer Vertreter nur auf heimliche Verabredungen
zurückzuführen
ist: Die Anhänger von Franz Anton Mesmers Lehre vom „animalischen
Magnetismus“
gelten ebenso wie die Autoren der Romantik als Angehörige einer
„Gelehrtenverschwörung“,
die mit allen Mitteln nach Dominanz im intellektuellen Feld streben.
Zugleich
inspirieren konspirationistische Projektionen eine Literatur, die sich
von
didaktischen, moralischen und religiösen Bindungen emanzipiert:
Friedrich
Schillers erfolgreicher Fortsetzungsroman Der Geisterseher
entdeckt
das Faszinationspotential des mehrfach dimensionierten Scheins und
modelliert
am Beispiel des mehrfach manipulierten Individuums das brisante Problem
von
Selbst- und Fremdbestimmung. Goethes „Bildungsroman“ Wilhelm
Meisters
Lehrjahre referiert mit dem Textelement der Turmgesellschaft nicht
nur
subtil auf Praktiken des realen Illuminatenordens, sondern exponiert
die
„geheime Lenkung“ zu jenem Zentrum der Narration, das die Zeichen- und
Ereignisketten
des Handlungsverlaufs verknüpft. Karl Gutzkows 1850/51
veröffentlichter
„Feuilleton-Roman“ Die Ritter vom Geiste
inszeniert den Abschied von heimlichen Verschwörungen und
führt
zugleich jene „Gespenster des Communismus“ in die Literatur ein,
die im
Manifest der Kommunistischen Partei zwei Jahre zuvor theoretisch
sichtbar
gemacht wurden.
Die Geschichte
konspirationistischer Vorstellungen ist ein brisantes, in
seinen Untergründen und Verzweigungen bislang jedoch erst
punktuell
erforschtes Kapitel der deutschen und europäischen
Kulturgeschichte.
Die vorliegende Untersuchung rekonstruiert erstmals umfassend und auf
breiter
Materialbasis die interne Ausgestaltung von Verschwörungsszenarien
in
dem durch Reinhart Kosseleck als „Sattelzeit“ bestimmten Jahrhundert
zwischen
1750 und 1850.
Gezeigt wird, wie die mit faktualem Geltungsanspruch auftretenden Verschwörungstheorien und die mit ästhetischem Anspruch generierten Verschwörungsfiktionen als Ergebnisse folgenreich umgestellter Beobachtungen der sozialen Welt entstehen und ein kaum zu überschätzendes Faszinationspotential gewinnen: Als Modelle zur Deutung und Erklärung individuenübergreifenden Handelns reduzieren sie die Komplexität sozialer Verhältnisse durch personalisierende Kausalattributionen, die sichtbare Devianz und krisenhafte Verwerfungen als Kalkül koordinierter Machinationen heimlich verbundener Akteure und ihrer invisiblen Pläne enthüllen. In ihren textuellen Ausgestaltungen aber folgen sie einer unlimitierten Kombinatorik und erzeugen maximierte Verweisungszusammenhänge, die eine signifikant gesteigerte Aufmerksamkeit voraussetzen wie hervorbringen und dabei eine intensiv erweiterte Zirkulation von Zeichen initiieren. Wenn nichts ist, wie es scheint , erweist sich jedes Detail der sozialen Welt als bedeutungsvolles Indiz, das mit tendenziell selektionsloser Sensibilität wahrgenommen und mit universalem Mißtrauem ausgewertet werden muß. Resultat dieser seit der Aufklärung auf innerweltliche Akteure fokussierten und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts intensivierten Beobachtung und Deutung ist eine kollektive Paranoia, die Immanuel Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht als „besondere Art mit Vernunft zu rasen“ bestimmte und deren Folgen sowohl politische Theoriebildung und Geschichtsschreibung als auch das sich ausdifferenzierende Literatur- und Wissenschaftssystem beeinflussten. |