Die computerphilologische Modellierung von Text-Kontext-Beziehungen.
Am Beispiel einer digitalen medienhistorischen Quellensammlung

Vortrag an der LMU München, 29. Oktober 2004
(hier auch als pdf-Dokument)


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Der Vortrag thematisiert Möglichkeiten der computerphilologischen Modellierung von Text-Kontext-Beziehungen, dargestellt am Beispiel einer medienhistorischen Quellensammlung. Es geht um die Frage, wie und mit welchen Gewinnen sich die Möglichkeiten von „Computerphilologie“ für eine reflektierte Kontextbildung und -verwendung und damit für einen zentralen Bestandteil literaturwissenschaftlicher Praxis nutzen lassen.
Zur Entfaltung und Klärung dieser Frage werde ich in drei Schritten vorgehen. In einem ersten theoretischen Abschnitt werden auf einer allgemeinen Ebene die Parameter des Problemfeldes Text und Kontext umrissen. In einem zweiten, schon anschaulicheren Abschnitt, geht es um bisher angewandte Möglichkeiten der computerphilologischen Modellierung von Text-Kontext-Relationen. In einem dritten und letzten Abschnitt möchte ich ein Projekt vorstellen, das gerade im Entstehen ist. Es handelt sich um eine DVD-Edition unter dem Titel: Das Jahr 1913: Texte – Bilder – Filme, die gegenwärtig am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität erstellt wird und als eine umfassende medienhistorische Quellensammlung literarische, bildliche, fotographische und filmische Zeugnisse des bedeutsamen Vorkriegsjahres versammeln soll. Dieses Projekt wirft nicht nur theoretisch relevante Fragen wie etwa nach der Modellierung von Text-Kontext-Beziehungen in historischer Synchronie auf. Es demonstriert zugleich, welchen Herausforderungen sich „Computerphilologie“ angesichts einer Rekonstruktion von Text-Kontext-Beziehungen unter Bedingungen einer veränderten Medienkonkurrenz zu stellen hat. Nicht zuletzt zeigt die entstehende DVD-Edition aber auch, welche Chancen zur nachhaltigen Verbesserung von Forschung und Lehre „computerphilologische“ Projekte aufweisen – von der Bereitstellung zahlreicher seltener Quellen, die als materiale Voraussetzung für weitergehende Forschungen genutzt werden können, bis zur vernetzten Präsentation unterschiedlicher Text- und Zeichensysteme auf einer Benutzeroberfläche, die eine „praktische“ Anwendung von Kategorien und Verfahren der vergleichenden Medienanalyse erlaubt. Dieser dritte und abschließende Teil wird dann sehr anschaulich und partiell auch „bunt“. Vorher aber geht es um eher unanschauliche Zusammenhänge, deren Relevanz und Bedeutsamkeit für die Literaturwissenschaft nicht zu unterschätzen sind. Denn die Relationierung von Text und Kontext stellt ein zentrales Problem der Philologien, aber auch anderer historischer Disziplinen dar – insbesondere angesichts einer nun seit einigen Jahren intensiv diskutierten „kulturwissenschaftlichen Erweiterung“ der Humanwissenschaften. Ohne an dieser Stelle näher auf Varianten und „Spielarten“ dieser „kulturalistischen Wende“ eingehen zu können, möchte ich in einem ersten Abschnitt die Dimensionen des Beziehungsfeldes Text-Kontext skizieren. Die notwendig knappe Skizze liefert den Hintergrund für die nachfolgenden Erläuterungen zu den Möglichkeiten und Chancen einer computerphilologischen Modellierung von Text-Kontext-Relationen. 
Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen zu den Beziehungen von Text und Kontext ist die Beobachtung, daß die Begriffe in so vielfacher und vielfältiger Weise verwendet werden, daß eine begriffliche Fixierung nicht leicht fällt. Klar dürfte sein, daß der Begriff „Kontext“ eine Relation bezeichnet, die sich durch das Vorhandensein eines „Textes“, also einer zusammenhängenden sprachlichen Äußerung mit einer spezifizierten kommunikativen Adressierung ergibt. Ebenso klar dürfte sein, daß es keinen Text bzw. keine sprachliche Äußerung gibt, die ohne Kontext gedacht werden könnte, und daß dieser Bezug mehrfache Dimensionen aufweist: Wenn ich hier zu Ihnen spreche, bewege ich mich in einem situationellen Kontext innerhalb der Institution Universität, stelle durch Verknüpfungen in meiner Rede sprachliche Ko-Texte her und greife auf bestimmte Wissenskontexte zurück. 
Als „Rahmungen“ oder „Umwelten“ einer sprachlich und textsortenspezifisch regulierten Rede weisen Kontexte also eine gewisse „räumliche“ Qualität auf: Sie besitzen eine gemeinsame Grenze mit einer Äußerung bzw. einem Text, dessen Umgebung sie jeweils bilden. Mit historischer Distanz und wachsender Abstraktion aber hilft diese räumliche Orientierung nicht weiter. Es empfiehlt sich eine Erweiterung, die dennoch die Intuition der Verbindung nicht aufgibt. Deshalb soll unter dem Begriff „Kontext“ im folgenden eine heuristische Kategorie verstanden werden, mit der sich unterschiedliche Anschlußmöglichkeiten an einen Text erfassen und benennen lassen. Wenn „Kontext“ so als ein Potential von Anschlüssen verstanden werden kann, dann stellt sich jeder Beschäftigung mit einem Text die Frage, wie sich relevante „Anschlüsse“ ermitteln und von anderen, irrelevanten „Anschlüssen“ abgrenzen lassen. 
Mögliche erste Hilfe leistet eine Segmentierung des Begriffs, zu der linguistische Differenzierungen des Terminus beigetragen hat. „Umgebungen“ bzw. „Anschlußmöglichkeiten“ von Texten können sein: (a) sprachliche Ko-Texte; (b) nicht-sprachliche kommunikative Kontexte, (c) Handlungs- und Situationskontexte und (d) Wissenskontexte. Damit aber ist noch nicht klar, wie die originären Kontexte von historischen Textmaterialien rekonstruiert werden können – obwohl doch gerade diese Rekonstruktionen notwendig sind, um Bedeutungszuweisungen oder historische Einordnungen nicht beliebig werden zu lassen. Denn allein durch eine genaue Re-Kontextualisierung, d.h. durch eine materialgesättigte Rekonstruktion ihrer historischen „Umgebungen“ kann der Beliebigkeit in Aussagen über einen Text und seiner willkürlichen Verknüpfung mit anderen „Anschlußmöglichkeiten“ angemessen entgegengetreten werden. 
Entscheidende Bedeutung kommt deshalb einer reflektierten Bildung und Verwendung von Kontexten zu, die davon ausgehen muß, daß es keine quasi-natürliche Limitierung des Kontext-Materials gibt. Um es knapp und thesenhaft zugespitzt zu sagen: Den Verbindungen zwischen Text bzw. Textbestandteilen und Kontextelementen sind keine „natürlichen“ Grenzen gesetzt; ein Text bzw. jedes einzelne Textvorkommnis läßt sich mit allem verbinden, was seinem Interpreten oder einem historischen Beobachter einfallen mag. Damit aber nicht die gesamte Kontextfülle als gleichrelevant für die Zuweisung von Bedeutung gilt, müssen die Bestandteile dieses Kontextes (extratextueller, intra- und intertextueller Herkunft) gegliedert, d.h. durch Unterscheidung einzelner Segmente und durch Bestimmung ihrer Beziehung untereinander individualisiert werden. Die Auswahl von Kontextsegmenten basiert auf identifizierenden und verknüpfenden Annahmen, die den primären Kontext eines zu interpretierenden Textes auszeichnen, andere Kontextsegmente als subsidiär charakterisieren bzw. einige ausschließen. 
Von diesen Überlegungen ausgehend, lassen sich folgende normative Aussage bzw. Imperative formulieren. Um illegitime Anachronismen und Beliebigkeit zu vermeiden, hat eine reflektierte Kontext-Bildung nach Regeln und Kriterien zu erfolgen. Neben dem Ökonomie-Prinzip, das etwa bei der Herstellung von Einflußbeziehungen zu beachten ist und der nächstliegenden Quelle einen privilegierten Status zuweist, kommt der Verfügbarkeitsmaxime eine besondere Bedeutung zu: Kontext-Elemente, die in Verbindung mit einem zu deutenden oder zu interpretierenden Text gebracht werden, müssen zur Zeit seiner Entstehung verfügbar, d.h. vorhanden und zumindest der Möglichkeit nach greifbar gewesen sein. Eine reflektierte Kontext-Verwendung kann es nur geben, wenn genau erklärt und begründet wird, wie und warum spezifizierte Relationen zwischen Text und Kontextelementen hergestellt werden. Denn die Möglichkeiten zur Herstellung dieser Relationen sind vielfältig und ihre Auswirkungen – etwa auf die Interpretation als einem klassischen Feld der Kontextgenerierung und –verwendung – kaum zu unterschätzen. Unterscheiden lassen sich dabei kausale, symbolische , metonymische und hierarchische Relationierungen – wobei die Herstellung kausaler Relationen etwa durch Ermittlung von Einflußbeziehungen und symbolische Verknüpfungen durch die „Dechiffrierung“ von zeichenhaft verschlüsselten Aussagen über Autor, Generation, Gesellschaft etc. realisiert werden. Metonymische Relationen zwischen Texten und ihren Kontexten entdecken Vertreter einer neuhistorizistischen Literaturforschung, wenn sie die Gleichrangigkeit von Artefakten behaupten und die in ihnen zirkulierende „soziale Energie“ herausarbeiten wollen. Hierarchische Relationen zwischen Text und Kontext spielen beispielsweise in editionsphilologischen Bemühungen eine Rolle, wenn durch Einbettung eines überlieferten Textes in eine erschlossene Abfolge von Vorstufen eine Text-Kontext-Hierarchie etabliert wird, um Deutungen bzw. Erklärungen möglich zu machen. 
II
Die erwähnte Generierung einer Text-Kontext-Hierarchie durch die Rekonstruktion integraler Textbausteine und Bearbeitungsstufen erlaubt die Überleitung zum zweiten Abschnitt meiner Überlegungen. Wie angekündigt, werde ich hier den Möglichkeiten einer computerphilologischen Modellierung von Text-Kontext-Beziehungen nachgehen. Dabei will ich in exemplarischer Weise auf Projekte eingehen, die die zentralen Potentiale des Computers „Rechnen – Speichern – Suchen“ zur Akkumulation, zur Präsentation und zur Recherche philologisch relevanter Inhalte nutzen.  Die beiden ersten Projekte, die ich vorstellen werde, widmen sich den Produktionen eines Autors, die zentrale Fragen nach der Identität eines Textes bzw. eines literarischen Werkes aufwerfen. Das erste Projekt ist ein Editionsvorhaben des englischen Unternehmens Chadwyck-Healey, das die kritische Kafka-Ausgabe des S. Fischer-Verlages elektronisch umgesetzt hat.
Kafkas Werke auf CD-ROM


Die auf CD-ROM vorliegende und im WWW gegen Gebühr zu benutzende Ausgabe steht unter dem Titel Kafkas Werke auf CD-ROM bzw. Kafkas Werke im WWW – obwohl es sicher schwerfällt, dem Autor Kafka – der Zeit seines Lebens nur wenige Texte veröffentlichte und seine drei Romane unvollendet hinterließ – „Werke“ zuzuschreiben. Nur in Paranthese sei hier angemerkt, daß die nicht sonderlich korrekte Rubrizierung vom englischen Verlag – vermutlich aus merketingstrategischen Gesichtspunkten – gewählt wurde; die seit 1982 erschienene Ausgabe des S. Fischer-Verlags trägt den Titel Franz Kafka Kritische Ausgabe. Schriften und Tagebücher .

Das WWW-Angebot stellt die Möglichkeiten einer digitalen Edition in starker Weise heraus:
„Die Übertragung der gedruckt vorliegenden Kritischen Kafka-Ausgabe in ein elektronisches Medium eröffnet in editorischer Hinsicht eine neue Dimension. Die Endgültigkeit des in gedruckter Form Fixierten wird aufgehoben, Nachträge und Korrekturen können in kurzer Zeit eingebracht, interaktive Möglichkeiten des Mediums genutzt werden.“

Fragt man genauer nach der „neuen Dimension“ dieser digitalen Ausgabe und speziell nach veränderten bzw. „interaktiven“ Formen der Modellierung von Text-Kontext-Beziehungen, dann fällt die Antwort zwiespältig aus. Einerseits liefert die digitale Ausgabe, die auf einer SGML-konformen Datenbank beruht, einen zuverlässigen Text, der die Stärken des Auszeichnungssystem nutzt und sich auf verschiedene Weise recherchieren läßt. Textelemente lassen sich exportieren und in Anwendungen weiterverarbeiten. Auch sind zumindest die Tagebücher mit Kommentaren versehen, die durch Verbindungselemente (sprich: Links) erreicht werden können. Andererseits aber bildet die elektronische Edition nur die Buchausgabe in exakter Weise ab. Um identische Zitationen von Papier- und digitaler Edition zu gewährleisten, werden auch in der elektronischen Version die Buchseiten der Fischer-Ausgabe vollständig und unverändert wiedergegeben und mit digitalem Beiwerk gleichsam „umrahmt“. Die „Verlinkung“ der Seiten von jeweiligem Text- und Apparatband ist hier zu sehen:

 

Am Anfang jeder Textseite, zu der es „Editorische Eingriffe“, „Varianten“ oder wie im Fall der Tagebücher einen „Kommentar“ in den Apparat-Bänden gibt, kann man durch Aktivierung der Verweis-Button den entsprechenden Kontext aufrufen. Dieser erscheint in einem separaten Fenster unter der Überschrift „Hyperlink“. Innerhalb der Kommentare zu den Tagebucheinträgen finden sich weitere Verweise, die zu Bilddateien – etwa zu Zeichnungen in den Tagebüchern oder zu Fotographien in den Kommentaren – führen. So ergibt sich eine vernetzte Struktur, die zwar gewöhnungsbedürftig, für rasche Nachschlage-Leküren aber brauchbar ist:

Kafkas Werke auf CD-ROM  
Die digitale Edition von „Kafkas Werken“ durch Chadwyck-Healey macht zugleich die Defizite deutlich, die entstehen, wenn Hypertextstrukturen ohne weitere Reflexion der Möglichkeiten des Mediums auf eine ursprünglich in Buchform publizierte Ausgabe übertragen werden. Sie nutzt zwar die vorhandenen nicht-digitalen Hypertextstrukturen, die jede kritische Edition mit lemmatisierten Apparaten aufweist: Denn formal gesehen kann jede Relationierung von Text und Apparat als ein Hypertext aufgefaßt werden, in dem die Worte bzw. Bestandteile des Textes mit den im Apparat wiedergegebenen Varianten und Erläuterungen verknüpft sind.

Was aber bereits in der gedruckten Ausgabe durch die Herstellung eines linearen Fließtextes verloren ging, wird auch in der elektronischen Ausgabe nicht wieder hergestellt und dem Leser zugänglich gemacht: Die eigentümliche Gestalt von Kafkas Schreibprozess, die mehrfach zu exegetischen Bemühungen eingeladen hat und in der Tat eine besondere Form des Umgangs mit Text und Kontext erfordert. Denn Kafkas handschriftlich hinterlassene Texte erweisen sich im buchstäblichen Sinne als „Textnetze“ mit Anschlüssen und Überschneidungen, Parallelwegen und Sackgassen:

Kafkas Handschrift

Wenn die in der Handschrift sichtbaren Stufen des Schreibprozesses mitsamt ihren Streichungen und Überschreibungen sich ebenso als „Kontext-Elemente“ einer Äußerung identifizieren lassen wie die materialen Träger des Geschriebenen und die hier erkennbaren „Spuren“ äußerer Schreib-Bedingungen, dann ist – und vor allem bei einem Autor wie Kafka – jedes Detail bedeutungsrelevant und auswertbar. In der von Chadwyck-Healey vertriebenen Digital-Edition werden diese bedeutungsrelevanten Details verbal bzw. durch editorische Zeichen beschrieben – was dann so aussieht:

 

 

Genau diese den Text umgebenden bzw. strukturierenden Details aber unmittelbar sichtbar und auswertbar gemacht zu machen ist eine wesentliche Leistunge der von Roland Reuß und Peter Staengle im Stroemfeld-Verlag besorgten Historisch-Kritischen Kafka-Ausgabe, die in einer Hybrid-Edition als Verbindung von Buch und CD–ROM vorliegt. Diese auch als „Archiv-Ausgabe“ bezeichnete Edition beruht auf einem bestechend einfachen Gedanken: Sie gibt die durch hochauflösende Scanns erzeugten Faksimiles der Originalhandschriften und eine diplomatische Umschrift des Textes wieder:

Kafka_historisch kritisch


Zugleich stellt sie den ursprünglichen Zusammenhang der Überlieferung wieder her, dessen Spezifik gerade darin besteht, daß es keinen fixierten Zusammenhang gibt. So versammelt etwa die Ausgabe des Process -Romans die vorhandenen Textbestandteile genau so, wie Kafka sie verfertigte und wie sie heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach eingesehen werden können – und zwar in 16 Heften in einem Schuber, so daß jeder Leser jetzt selbst die Plausibilität von Max Brods und Malcolm Pasley Anordnungen überprüfen kann. Die Ausgabe reproduziert gleichsam „urkundlich“ die Manuskripte, ohne irgendeine Verknüpfungsstruktur bereitzustellen und über den Text zu legen. Alle Aufgaben der Verbindung und Linearisierung fallen dem Leser zu, der nicht nur seinen „eigenen“ Text zu erstellen hat, sondern vor allem auch den Akt des Schreibens, Streichens und Neuschreibens erleben kann.

Wie erwähnt, ist den Bänden der von Roland Reuß und Peter Staengel betreuten Kafka-Ausgabe ein digitales Medium mitgegeben. Eine CD-ROM, die die Faksimiles und die diplomatische Umschrift im plattformunabhängigen Format PDF enthält, soll nach Worten des Herausgebers Roland Reuß als „Lesehilfe“ dienen. Tatsächlich erlaubt der digitale Datenträger einiges, was der Papierausgabe unmöglich ist: Die hochauflösend gescannten Schriftträger lassen sich beliebig vergrößern, so daß nahezu jede Pore des von Kafka beschriebenen Papiers und noch der letzte Schlenker seiner Handschrift sichtbar wird.


 
Die Möglichkeit, Schriftzüge, Streichungen und Verbesserungen auf einer Benutzeroberfläche verfolgen und vergleichen zu können, dürfte nicht nur für Graphologen von Interesse sein. (Schon der berühmte Satz „Jemand mußte Josef K. verläumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“, weist eine Korrektur auf, die von nicht geringer Tragweite ist und zu Fragen herausfordert – denn ursprünglich hatte Kafka formuliert, daß Josef K. eines Morgens „gefangen war“.) Zugleich erlaubt der elektronische Textkorpus eine bequeme Volltextrecherche und kann auf diese Weise zu einem nicht zu verachtenden Hilfsmittel für quantative und qualitative Analysen werden. Nicht ausgenutzt werden allerdings die Möglichkeiten einer Vernetzung von Text- und Kontextelementen, die die digitale Plattform geboten hätte.



So bildet etwa die schematisierte Darstellung des sogenannten „Blattkontextes“ nur die Graphik der Druckseite ab – obwohl doch gerade hier der Einsatz von aktiven Link-Strukturen den Überlieferungszusammenhang plastisch hätte demonstrieren könnte.


Wie die knappen Hinweise zeigen, nutzen die vorgestellten Kafka-Editionen die Potentiale einer computerunterstützten Philologie nur bedingt. Sie erlauben zwar gezielte Recherchen innerhalb der erfaßten Texte und Varianten, vergeben aber die Chance, durch die Sammlung und Bereitstellung von umfassenden Kontext-Materialien und deren enge Verknüpfung mit dem Text-Material eine materialgesättigte Grundlage für weitergehende Forschungen zu schaffen. Denn wenn die Stärken des Computers in Rechnen, Speichern, Suchen bestehen, dann sind für Philologen vor allem die Fähigkeiten zur Speicherung und Durchsuchung großer Text- und Kontextbestände relevant.

 
Genau diese Möglichkeiten aber nutzt ein Projekt, dessen besondere Leistungen hinsichtlich der Modellierung von Text-Kontext-Beziehungen nur gelobt werden kann:
Der junge Goethe in seiner Zeit

Wenn ich dieses Projekt an dieser Stelle besonders hervorhebe, dann nicht nur deshalb, weil seine Produzenten aus München und aus dieser Fakultät kommen. Es ist in mehrfacher Hinsicht eine Fundgrube – und soll aus diesem Grund hier nähere Aufmerksamkeit erfahren. Die CD-ROM, die 1998 als Bestandteil der Hybridedition Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte erschien, löst das im Nebentitel gegebene Versprechen in gleichsam mustergültiger Weise ein.

Der junge Geothe in seiner Zeit - Inhaltsverzeichnis  
Denn die Silberscheibe enthält nicht nur sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775 (mitsamt späteren Überarbeitungen). Sie versammelt unter der Überschrift „Kontexte“ auch überaus umfangreiche Textsammlungen mit den Schwerpunkten „Stoffe und Vorlagen einzelner Werke“, „Literarische Ausdrucksformen der Zeit“, „Dichtungs- und Lebenskonzepte“, „Briefe an Goethe“sowie „Zeitgenössische Berichte und Urteile über Goethe“. Im Abschnitt „Kontexte“ finden sich zugleich auch „Rezensionen, Polemiken, Parodien“ sowie Äußerungen von Zeitgenossen über den Dichter. Zur geistig-kulturellen Umwelt, mithin zum Kontext von Goethes Werk gehören zudem Text-Bestände, die unter der Überschrift „Semantische Vorräte“ verfügbar sind. Hierzu zählen die unter dem Titel „Ephemerides“ versammelten Exzerpte und Notizen, die ein Lektüreprotokoll des jungen Goethe bilden und als Zeugnis der persönlichen wie der allgemeinen Bildungsgeschichte gelesen werden können ebenso wie das Verzeichnis der elterlichen Bibliothek, das 1953 durch Franz Götting erstellt wurde. Als „semantische Vorräte“ finden sich aber auch die digitalen Wiedergaben von bildungsgeschichtlichen Zentralwerken auf CD: Zum einen die faksimilierte Wiedergabe von Benjamin Hederichs Mythologischem Lexikon in der von Johann Joachim Schwabe 1770 publizierten Version; zum anderen die z.T. in drei Fassungen vorgehaltene Bibel.

Eine Frage – die jedoch die Leistung der Herausgeber Karl Eibl, Fotis Jannidis und Marianne Willems nicht schmälern soll – betrifft die auf CD nicht aufgenommenen Texte. So läßt sich etwa in Goethes autobiographischer Darstellung Dichtung und Wahrheit nachlesen, welche Bedeutung hermetische Texte wie Georg von Wellings Opus mago-cabbalisticum in seiner Frankfurter Krankheitszeit gewann und wie stark diese Werke auf die Genese seiner „Privatreligion“ wirkten. Rolf Christian Zimmermann hat diesen Elementen im „Weltbild des jungen Goethe“ eine umfangreiche Untersuchung gewidmet. Wenn diese Elemente nun nicht auf dem digitalen Datenträger vorhanden sind, kann dies natürlich nicht bedeuten, daß sie ohne Relevanz für die Entwicklung des Autors und seinen Wissenskontext wären. Ohne Zweifel sind sie relevant – und erinnern an die Pflicht, sich zur Bildung und Verwendung eines adäquaten Kontextes nicht allein auf digital verfügbare Quellen zu verlassen.

III
Die CD-ROM-Komponente zur Hybrid-Edition Der junge Goethe hat mich – wenn ein solch persönliches Wort erlaubt ist – schwer beeindruckt. Die Bereitstellung einer Fülle von Materialien in einer umfassend zu erschließenden Form stellt eine meines Erachtens überaus gelungene Anwendung computerputerphilologischer Praxis in einem Kerngebiet der Literaturforschung dar. Für mich und meine Lehrtätigkeit hatte die Bekanntschaft mit diesem Projekt nachhaltige Folgen. Als Ergebnis eines Seminars zu Thomas Manns Roman Doktor Faustus, das ich im Wintersemester 2001/02 anbot, entstand eine CD-ROM-Edition, die ebenfalls das Programm FolioViews nutzt, um den textuellen wie kontextuellen Reichtum des Werkes digital verfügbar zu machen.
Thomas Mann "Doktor Faustus" - Texte, Bilder, Musik
Es ist bekannt, welche Fülle von expliziten und impliziten Verweisen und Anspielungen der Roman über das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn enthält. Diese Verweise auf andere Texte, auf Bilder und vor allem auf musikalische Quellen können erlebbar und nachvollziehbar gemacht werden, wenn der digital erfaßte Text segmentiert und die betreffenden Textelemente mit den entsprechenden Kontextmaterialien sprachlicher, bildkünstlerischer oder musikalischer Herkunft „verlinkt“ werden.



Die unter studentischer Mithilfe erstellte CD-ROM will den Reichtum der Textbezüge erfassen, indem sie zahlreiche Quellen versammelt und als „Umgebungen“ des Romantextes präsentiert. Die Vielfalt dieser Kontextbestände kann hier nur angedeutet werden – sie reichen von der Schilderung der Apokalypse im Johannes-Evangelium bis zu Adornos Philosophie der neuen Musik , die nicht nur im Teufelsgespräch bedeutsam wird und deren z.T. wörtliche Übereinstimmungen mit Thomas Manns Text nun exakt bestimmt werden kann. Kontexte im Sinne von „Anschlußmöglichkeiten“ bzw. „Umgebungen“ des Roman-Textes sind zugleich die zahlreichen bildkünstlerischen Quellen, die Thomas Mann vor bzw. während der Arbeit am Doktor Faustus zur Kenntnis nahm und deren spezifisch literarische Verarbeitung nun durch die Parallel-Präsentation von Text und Bildzeugnis auf einer Benutzeroberfläche analysiert werden kann. Wesentliche „Umgebungen“, „Anschlüsse“ bzw. „Kontexte“ des Romans sind schließlich die zahlreichen explizit oder implizit erwähnten musikalischen Quellen, die von mittelalterlicher Choralmusik bis zu Zwölfton-Kompositionen Arnold Schönbergs reichen. Die CD-ROM bietet nun die Chance, die z.T. wörtlich von Adorno übernommenen und „aufmontierten“ Erläuterungen innerhalb des Romantexts mit den betreffenden Musikstücken selbst zu vergleichen, indem etwa die Erläuterungen von Wendell Kretzschmar zu Beethovens op. 112 mit der entsprechenden Klangdatei verlinkt sind.

Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den methodischen Überlegungen sagen, welche dem Prozeß der Kontext-Bildung für dieses komplexe Werk zugrunde lagen. Wie an der Auflistung des Inhaltsverzeichnisses zu erkennen, gelten neben dem Romantext selbst vor allem die Eigenkommentare des Autors und seine Aufzeichnungen aus der Entstehungszeit des Romans als „Schlüssel“, um spezifizierte Kontexte zu ermitteln. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Tage- und Notizbücher sowie der vor allem von Thomas Mann als „Roman eines Romans“ veröffentlichte Bericht Die Entstehung des Doktor Faustus . Doch wird auch hier wieder deutlich, welche Sensibilität im Umgang mit vermeintlich eindeutigen Kontext-Konstruktionen erforderlich ist. Denn die 1949 publizierte Schrift Die Entstehung des Doktor Faustus weist Relativierungen von Einflußbeziehungen auf, die durch den Datenbestand der CD-ROM nun als retrospektive und von bestimmten Interessen diktierte Stilisierungen identifiziert und nachgewiesen werden können – indem etwa der in Thomas Manns Schrift Die Entstehung des Doktor Faustus herabgestufte Anteil Adornos an zentralen Passagen des Romans nun bis in Wortwahl und Satzkonstruktion ermittelbar ist. Selbstverständlich sind solche intertextuellen Vergleiche auch ohne Computer möglich – doch jetzt liegt das Material auf CD vor und macht die Arbeit leichter.
IV
Da ich nun bereits mit der Darstellung eigener Projekte und also mit Werbung in eigener Sache begonnen habe, kann ich entsprechend fortfahren und komme zum dritten Abschnitt meiner Überlegungen. Dieser letzte und abschließende Teil soll ein Projekt vorstellen, das gegenwärtig durch Dorit Müller und mich am Institut für deutsche Literatur realisiert wird – eine DVD-Edition unter dem Titel: Das Jahr 1913. Texte, Bilder, Filme.
 
Das Jahr 1913

Ausgangspunkt dafür waren eine Lehrveranstaltung meiner Kollegin Dorit Müller zum Thema und ein Buch, das im Frühjahr 1914 im Leipziger Teubner-Verlag erschienen war.

Das Jahr 1913
Das Jahr 1913


Der von David Sarason herausgegebene Sammelband unter dem Titel Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung vereinte prominenteNamen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Eduard Bernstein stellte die Politik der Sozialdemokratie im Jahre 1913 dar, Gertrud Bäumer schilderte den Aufschwung der Frauenbewegung, Karl Lamprecht resümierte die Entwicklung in der Kulturgeschichte und Ernst Troeltsch referierte über die voranschreitende „chaotische Zerspaltenheit unsres Religionswesens“. Eine Übersicht über die „literarische Kunst“ des Jahres 1913 lieferte Richard Moritz Meyer, ein Schüler Wilhelm Scherers und ausgewiesener Kenner der Materie. Verwunderlich und erklärungsbedürftig aber ist der Umstand, daß Richard Moritz Meyer – der sich in anderen Publikationen stets offen und interessiert zur Gegenwartsliteratur geäußert hatte – eine sehr spezifische Perspektive zur Literatur des Jahres 1913 einzunehmen scheint. Von den heute bekannten Texten, die im Jahr 1913 erschienen – etwa Gottfried Benns Gedichtsammlung Söhne oder Alfred Döblins Erzählband Die Ermordung einer Butterblume – findet sich kein Wort, expressionistische Zeitschriften wie Die Aktion oder Der Sturm werden nicht erwähnt. Georg Heyms 1913 posthum veröffentlichter Novellenband Der Dieb taucht ebenso wenig auf wie die im selben Jahr durch den Verleger Kurt Wolff zusammen mit Franz Werfel, Walter Hasenclever und Kurt Pinthus begründete Buchreihe Der jüngste Tag . Dagegen wird breit über Gerhart Hauptmanns 50. Geburtstag berichtet und ein „Triumph der Novelle“ konstatiert, der sich in Texten wie Jakob Wassermanns Der Mann von vierzig Jahren und Thomas Manns Tod in Venedig manifestiert habe. Ausführlich gewürdigt werden auch die Neuen Gedichte des heute nahezu vergessenen Wilhelm von Scholz und der Zyklus 1813 von Ernst Lissauer.

Möglicherweise findet diese befremdlich anmutende Wahrnehmung des Literaturjahres 1913 durch den zeitgenössischen Leser Richard Moritz Meyer eine Erklärung, wenn die Differenz zwischen dem unmittelbaren Blick des beteiligten Teilnehmers und dem retrospektiven Blick des späteren Beobachters berücksichtigt wird. Historische Distanz muß jedoch nicht bedeuten, daß der Blick des späteren Beobachters einen wie auch immer privilegierteren Status aufweist als die Wahrnehmung des zeitgenössischen Akteurs. Auch wenn die Dichte von Informationen über bestimmte Autoren, Verkehrsformen und Schreibverhältnisse mit wachsendem zeitlichen Abstand zunehmen kann, haben spätere Beobachter und Erforscher keinen per se „besseren“, „genaueren“ oder „weiteren“ Zugang zu ihren Forschungsgegenständen. Denn zwischen sie und die entschwindenden historischen Phänomene schiebt sich mit jeder dazu produzierten Textzeile eine weitere Schicht von Beobachtungen, Deutungen und Erklärungen, die ihrerseits den Blick in einer Weise modellieren, daß eine gleichsam „unverstellte“ Begegnung mit Texten oder anderen Artefakten kaum mehr möglich ist. Um es kurz und zugespitzt zu sagen: Wenn der zeitgenössische Beobachter Richard Moritz Meyer die literarische Welt des Jahres 1913 anders beobachtet, deutet und bewertet als späterer Literaturforscher, dann muß nicht unbedingt Richard Moritz Meyers Blickwinkel eingeschränkt und verengt sein. Er nimmt einfach andere Dinge wahr als ein späterer Beobachter, dessen Perspektive schon von vorfindlichen literaturgeschichtlichen Darstellungen und ihren mehr oder weniger expliziten Auswahl- und Wertungskritierien imprägniert ist.

Diese Differenz zwischen der Wahrnehmung des zeitgenössischen Beobachters und dem Blick des retrospektiven, von vorgängigen Auswahl- und Bewertungskritierien vorgeprägten Literaturforschers motivierte unser Unternehmen, mit den Mitteln des Speichermediums DVD den literarischen Reichtum des Vorkriegsjahres 1913 in seinem originalen Zustand zur Zeit seiner Entstehung zu erfassen und in einen wechselseitigen Kontext mit Entwicklungen in Fotografie, Bildender Kunst und Film zu stellen.

Das Jahr 1913

Die gegenwärtig entstehende DVD Das Jahr 1913. Texte, Bilder, Filme enthält in der Rubrik „Literarische Texte“ ausgewählte Einzelwerke, die als Einzelpublikationen im Jahr 1913 veröffentlicht wurden – von Gottfried Benns Gedichtsammlung Söhne über Franziska von Reventlows Roman Herrn Dames Aufzeichnungen bis zur Rilke-Biographie von Paul Zech. Sie enthält zum anderen den digital erfaßten Jahrgang 1913 ausgewählter literarischer Zeitschriften und Jahrbücher in gleichsam „zweifacher“ Form: Zum einen befinden sich auf der DVD die Beiträge als recherchierbare Volltexte; zum anderen die in hoher Auflösung digitalisierten Originalseiten dieser Zeitschriften, um die ursprüngliche Typographie und Seitengestaltung dieser Periodika und damit also auch den Ursprungs-Kontext der Einzeltexte zu bewahren.



In dieser Weise sollen auch zumindest zwei Tageszeitungen mit ihren Artikeln des Jahrgangs 1913 erfaßt werden. Gedacht ist dabei zum einen an die Vossische Zeitung , zum anderen an die Frankfurter Zeitung – doch stellt die Erfassung so großer Textmengen in Fraktur einen ziemlichen Aufwand dar, der noch nicht angegangen wurde. Bereits vorhanden sind philosophische und wissenschaftliche Schriften mit dem Erscheinungsjahr 1913: Von Walther Rathenaus 1913 erstmals erschienener (und im gelichen Jahr dreimal aufgelegter) Schrift Zur Mechanik des Geistes bis zu Werner Sombarts Abhandlung Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen . (Das für die Digitalisierung genutzte Exemplar des Sombart-Werkes stammt aus der Gerhart-Hauptmann-Bibliothek, die in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz am Potsdamer Platz aufbewahrt wird.)

Wie aus Titel und Inhaltsverzeichnis gleichfalls zu ersehen, wird die fertige DVD nicht nur Texte enthalten. In der Rubrik „Bilder“ versammelt sie zum einen fotographische Zeugnisse des Vorkriegsjahres 1913, das für die Geschichte des Mediums schon deshalb nicht ohne Bedeutung ist, weil in diesem Jahr durch den bei den Optischen Werken Ernst Leitz in Wetzlar angestellten Ingenieur Oskar Barnack die erste Kleinbildkamera der Welt entwickelt wurde. Dieser unter dem Namen „Leitz-Camera“ bzw. „Leica“ später berühmt gewordene Typ von fotographischem Aufnahmegerät markierte eine neue Epoche in der Mediengeschichte, da durch ihn eine bis dahin schon rein technisch unmögliche Flexibilität in der Erzeugung fotographischer Aufnahmen ermöglicht wurde. Die DVD wird – wenn alles gut geht – die ersten mit dieser Kleinbildkamera erstellten Bilder enthalten; zugleich natürlich auch zahlreiche andere Fotographien, bei deren Akkumulierung auf die schon vorhandenen grossen Sammlungen des York-Projektes zurückgegriffen werden kann. In der Rubrik „Bilder“ werden daneben Werke der Bildenden Kunst versammelt, die 1913 entstanden – vom Lichtgebet des als Fidus berühmt gewordenen Hugo Höppner bis zu Franz Marcs Turm der blauen Pferde . Schließlich gibt es noch die Rubrik „Filme“. Was hier digital bereitgestellt wird, ist mehr als nur „Füllmaterial“ für die immense Speicherkapazität einer DVD. Denn im Jahr 1913 entstand nach einem Buch von Hans Heinz Ewers der erste deutsche Autorenfilm Der Student von Prag (den Henrik Galeen 1926 gleich noch einmal verflmte). Von den überaus zahlreichen im Jahr 1913 realisierten Filme können jedoch nur die Werke aufgenommen werden, die erhalten und verfügbar sind: Bislang sind das die Streifen Der Andere von Max Mack und die von Max Reinhardt inszenierten, noch ziemlich theaternahen Filme Eine Venezianische Nacht und Die Insel der Seligen .

Was leistet nun eine solche digitale Sammlung von Texten, Bildern und Filmen, deren Gemeinsamkeit zu erst einmal in ihrem gemeinsamen Entstehungs- bzw. Veröffentlichungszeitraum besteht? Welche Erkenntnismöglichkeiten ergeben sich aus dieser synchronen Akkumulation von Quellen für Literatur-, Medien- und Kulturhistoriker?

Die angestrebte Leistung dieser Akkumulation von unterschiedlichen Medien- und Datentypen, die auf einer Benutzeroberfläche präsentiert werden, kann knapp und einfach benannt werden: Mit der Bereitstellung einer umfassenden Menge von Texten, Bild- und Filmdokumente wird zum einen anschaulich sichtbar, was als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ umschrieben worden ist: Der durch eine Jahreszahl begründete Querschnitt setzt ein Denken in historischen Abfolgen zumindest kurzzeitig außer Kraft und relativiert damit Vorstellungen von Verlaufsformen und Entwicklungen, die vom unvermeidlichen Wissen des späteren Beobachters diktiert sind. Indem das DVD-Projekt Das Jahr 1913 zahlreiche (wenn natürlich auch nicht alle) literarischen Quellen digital bereitstellt und die Vielfalt der in Zeitschriften veröffentlichten Texte in ihren originalen Kontexten präsentiert, demonstriert es die materiale Fülle der literarischen Produktion und läßt Kanon und Kanonbildung als Auswahl und Konstruktion deutlich werden.
Damit aber sind zugleich wesentliche Probleme benannt, welche die vorgestellte DVD-Edition mit anderen Projekten einer synchronen Geschichtsdarstellung teilt. Bereits der Titel Das Jahr 1913 kann an drei Papier-Bücher erinnern, die einen Schnitt durch die Zeit praktizierten: Zum einen an Jürgen Kuczynskis 1903, zum anderen an Jean Starobinskis 1789; zum dritten an Hans-Ulrich Gumbrechts 1926. Womit die Ähnlichkeit in der Titelgebung nicht bedeuten soll, daß in irgendeiner Weise Vergleichbarkeit angestrebt wird. Das wäre wohl ziemlich vermessen.
Alle drei erwähnten Werke – also Jürgen Kuczynskis 1903 , Jean Starobinskis 1789 und Gumbrechts 1926 – versuchen sich an einer synchronischen Geschichtsschreibung – wobei die unterschiedlichen Intentionen bereits in den Nebentiteln erkennbar sind. Während Jean Starobinski für sein Buch über das Jahr des Bastille-Sturms den Nebentitel Les Emblemes de la raison [Die Embleme der Vernunft] wählte und damit schon zu erkennen gab, welche geschichtsphilosophische Deutungsperspektive seiner Darstellung zugrunde lag, lautet der vollständige Titel des Werkes von DDR-Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski 1903: Ein normales Jahr im imperialistischen Deutschland. Hans-Ulrich Gumbrechts 1926 trägt im englischen Original den Nebentitel „Living at the Edge of Time“, was in der deutschen Übersetzung als „Ein Jahr am Rand der Zeit“ firmiert.
Leitend für die Methodik in Gumbrechts synchroner Darstellung des dezidiert nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Jahres 1926 – es hätte, so der Autor selbst, auch das Jahr 926 sein können – sind sechs „Faustregeln für das Schreiben von Geschichte“, die unter dem Titel „Rahmen – Als es mit dem Lernen aus der Geschichte vorbei war“ vorgestellt werden. Die erste Regel besagt, daß zwischen Vergangenheit und Gegenwart keine kontinuierliche Beziehung besteht. Damit entfalle die Notwendigkeit, bestimmte Jahre als besonders wichtig bzw. als „Schwellenjahre“ auszuzeichnen und in dieser vorgängig fixierten Perspektive zu erforschen. Aus dem so begründeten Ziel, gleichsam „Panthersprung“-mäßig „Vergangenheit zu isolieren und präsent zu machen“, ergibt sich die zweite Regel: Auch innerhalb der zu untersuchenden Zeitspanne wird der Imperativ der Sequentialität außer Kraft gesetzt. Welche Ereignisse, Texte und Artefakte Eingang in das Buch über das Jahr 1926 finden, hängt nicht von ihrer Relevanz in bezug auf einen späteren Beobachter bzw. unsere Gegenwart ab, sondern einzig und allein von ihrer Relevanz für die Welt im Jahre 1926, d.h. von ihrer Bedeutsamkeit für die zeitgenössischen Akteure.
Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, Tragweite und Ergebnis einer so begründeten Form sychroner Geschichtsdarstellung ausführlich vorzustellen und zu diskutieren. Für die hier zentrale Frage nach der Modellierung von Text-Kontext-Verhältnissen in historischer Synchronie erweist sich dennoch ein Blick auf das von Gumbrecht gewählte Verfahren als aufschlußreich. Denn um „Simultaneität“ herzustellen, ordnet der Autor sein Material in 51 „Einträgen“ in den Rubriken „Dispositive“, „Codes“ und „Zusammengebrochene Codes“ an – wobei sich unter Eintragstiteln wie „Amerikaner in Paris“, „Lichtspielhäuser“ oder „Männlich = Weiblich“ inhaltliche Erläuterungen, Hinweise auf herangezogene Quellen und Zitate sowie Verweise auf verwandte Einträge finden. Dabei enthält das über 500 Seiten starke Buch keine einzige Abbildung (was vom Autor als Test für die Reichweite rein sprachlicher Mittel herausgestellt wird). Was aber der Idee von einer scheinbar unmittelbaren Vergegenwärtigung der „Welt von 1926“ besonders entgegensteht, ist die in den Einzeleinträgen charakteristische Mischung von beschreibenden, deutenden und wertenden Elementen. Der Autor beschränkt sich nicht auf reine Deskription und die Collage von Textstücken, sondern deutet, erklärt und bewertet durchaus – und das führt auf den durchschnittlich zehn Seiten jedes Eintrags zu einer entsprechend oberflächlichen Mixtur.
Genau dagegen aber richtet sich der Anspruch der DVD Das Jahr 1913 . Sie nutzt die Möglichkeiten des digitalen Speichermediums und den Enthusiasmus studentischer Mitwirkender, um die vielfältigen Quellen selbst sprechen zu lassen. Selbstverständlich sind nicht alle Zeugnisse des literatur- und mediengeschichtlich bedeutsamen Vorkriegsjahres auf der Silberscheibe digital abzubilden. Doch bieten die erwähnten Darstellungen zeitgenössischer Beobachter wie Richard Moritz Meyer einen ersten Anhaltspunkt, um zumindest eine Perspektive auf die literarische und kulturelle Produktion dieser Zeitspanne zu gewinnen und als Hinweis auf spezifizierte Text-Kontext-Gefüge auszuzeichnen. Die Reflexion der zugrundeliegenden Auswahl- und Verknüpfungsprinzipien bleibt ein unabdingbarer Bestandteil jeder philologischen Tätigkeit – und also auch der computerphilologischen Bereitstellung von Text- und Kontextbeständen für eine ertragreiche Literatur- und Medienforschung. Denn wenn wir eine kulturwissenschaftliche Erweiterung des Faches wollen – und diesen Wunsch auch begründen und forschungspraktisch umsetzen können – benötigen wir gesicherte Fundamente.
Dazu vermag Computerphilologie in einer Weise beitragen, die ich abschließend noch einmal thesenhaft verknappt zusammenfassen möchte.
These 1: Computerphilologie kann die zentrale Aufgabe, relevante Kontexte für die philologische Arbeit mit und an Texten bereitzustellen, partiell übernehmen – besteht doch eine ihrer zentralen Aufgaben und Potenzen in der Akkumulation von Datenmengen und deren Bereitstellung für effektive Recherche und Weiterverarbeitung. Die reflektierte Kontextbildung und –verwendung bleibt aber bleibt Aufgabe jedes Wissenschaftlers, der sich an Kriterien – und nicht an nur schwer greifbare Dinge wie „Takt“ oder „Eingebung“ – zu halten hat. Computerphilologie kann dazu bestimmte Informationen bereitstellen, die beispielsweise dabei helfen, anachronistischen Bedeutungszuweisungen zu entgehen – indem sie etwa Texte, künstlerische Artefakte und andere Dokumente zeitlich so präzise markiert und mit Kontextinformationen versieht, daß illegitime Übertragungen aus späteren Perspektiven erschwert bzw. unmöglich gemacht werden.
These 2:
Die computerphilologische Modellierung von Text-Kontext-Verhältnissen kann die „räumlichen“ Dimensionen von Kontexten partiell wieder sichtbar und nachvollziehbar machen, indem sie literarische Produktionen – namentlich Texte aus Zeitschriften, Zeitungen, Sammelbänden – in ihrer ursprünglichen „Textidentität“ und ihrer ursprünglichen „Umgebungen“ das heißt also
(a) in ihrer ursprünglichen Typographie und Textgestaltung;
(b) in ihrem ihrem ursprünglichen Zusammenhang mit anderen Texten zugänglich und recherchierbar macht.
Mein allerletzter Satz betrifft die vorgestellten Projekte: Beide Arbeiten verstehen sich als work in progress. Wer Vorschläge hat zu Texten, Bildern, Filmen, die aufgenommen werden sollen, kann sich bitte sofort melden – ein Exemplar der materialreichen Silberscheiben als Dankeschön wird garantiert. Und ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für die Aufmerksamkeit.