Der Vortrag thematisiert Möglichkeiten der computerphilologischen
Modellierung von Text-Kontext-Beziehungen, dargestellt am
Beispiel einer medienhistorischen Quellensammlung. Es geht
um die Frage, wie und mit welchen Gewinnen
sich die Möglichkeiten von „Computerphilologie“ für
eine reflektierte Kontextbildung und -verwendung und damit
für einen zentralen Bestandteil literaturwissenschaftlicher
Praxis nutzen lassen.
Zur Entfaltung und Klärung dieser Frage werde ich
in drei Schritten vorgehen. In einem ersten theoretischen
Abschnitt werden auf einer allgemeinen Ebene die Parameter
des Problemfeldes Text und Kontext umrissen. In einem zweiten,
schon anschaulicheren Abschnitt, geht es um bisher angewandte
Möglichkeiten der computerphilologischen Modellierung
von Text-Kontext-Relationen. In einem dritten und letzten
Abschnitt möchte ich ein Projekt vorstellen, das gerade
im Entstehen ist. Es handelt sich um eine DVD-Edition unter
dem Titel: Das Jahr 1913: Texte – Bilder – Filme,
die gegenwärtig am Institut für deutsche Literatur
der Humboldt-Universität erstellt wird und als eine
umfassende medienhistorische Quellensammlung literarische,
bildliche, fotographische und filmische Zeugnisse des bedeutsamen
Vorkriegsjahres versammeln soll. Dieses Projekt wirft nicht nur
theoretisch relevante Fragen wie etwa nach der Modellierung
von Text-Kontext-Beziehungen in historischer Synchronie auf.
Es demonstriert zugleich, welchen Herausforderungen sich
„Computerphilologie“ angesichts einer Rekonstruktion von
Text-Kontext-Beziehungen unter Bedingungen einer veränderten
Medienkonkurrenz zu stellen hat. Nicht zuletzt zeigt die
entstehende DVD-Edition aber auch, welche Chancen zur nachhaltigen
Verbesserung von Forschung und Lehre „computerphilologische“
Projekte aufweisen – von der Bereitstellung zahlreicher seltener
Quellen, die als materiale Voraussetzung für weitergehende
Forschungen genutzt werden können, bis zur vernetzten
Präsentation unterschiedlicher Text- und Zeichensysteme
auf einer Benutzeroberfläche, die eine „praktische“
Anwendung von Kategorien und Verfahren der vergleichenden
Medienanalyse erlaubt. Dieser dritte und abschließende
Teil wird dann sehr anschaulich und partiell auch „bunt“.
Vorher aber geht es um eher unanschauliche Zusammenhänge,
deren Relevanz und Bedeutsamkeit für die Literaturwissenschaft
nicht zu unterschätzen sind. Denn die Relationierung
von Text und Kontext stellt ein zentrales Problem der Philologien,
aber auch anderer historischer Disziplinen dar – insbesondere
angesichts einer nun seit einigen Jahren intensiv diskutierten
„kulturwissenschaftlichen Erweiterung“ der Humanwissenschaften.
Ohne an dieser Stelle näher auf Varianten und „Spielarten“
dieser „kulturalistischen Wende“ eingehen zu können,
möchte ich in einem ersten Abschnitt die Dimensionen
des Beziehungsfeldes Text-Kontext skizieren. Die notwendig
knappe Skizze liefert den Hintergrund für die nachfolgenden
Erläuterungen zu den Möglichkeiten und Chancen
einer computerphilologischen Modellierung von Text-Kontext-Relationen.
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Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen zu den
Beziehungen von Text und Kontext ist die Beobachtung, daß
die Begriffe in so vielfacher und vielfältiger Weise
verwendet werden, daß eine begriffliche Fixierung nicht
leicht fällt. Klar dürfte sein, daß der
Begriff „Kontext“ eine Relation bezeichnet, die sich durch
das Vorhandensein eines „Textes“, also einer zusammenhängenden
sprachlichen Äußerung mit einer spezifizierten
kommunikativen Adressierung ergibt. Ebenso klar dürfte
sein, daß es keinen Text bzw. keine sprachliche Äußerung
gibt, die ohne Kontext gedacht werden könnte, und daß
dieser Bezug mehrfache Dimensionen aufweist: Wenn ich hier
zu Ihnen spreche, bewege ich mich in einem situationellen
Kontext innerhalb der Institution Universität, stelle
durch Verknüpfungen in meiner Rede sprachliche Ko-Texte
her und greife auf bestimmte Wissenskontexte zurück.
Als „Rahmungen“ oder „Umwelten“ einer
sprachlich und textsortenspezifisch regulierten Rede weisen Kontexte
also eine gewisse „räumliche“ Qualität auf:
Sie besitzen eine gemeinsame Grenze mit einer Äußerung
bzw. einem Text, dessen Umgebung sie jeweils bilden. Mit
historischer Distanz und wachsender Abstraktion aber hilft
diese räumliche Orientierung nicht weiter. Es empfiehlt
sich eine Erweiterung, die dennoch die Intuition der Verbindung
nicht aufgibt. Deshalb soll unter dem Begriff „Kontext“ im
folgenden eine heuristische Kategorie verstanden werden,
mit der sich unterschiedliche Anschlußmöglichkeiten
an einen Text erfassen und benennen lassen. Wenn „Kontext“
so als ein Potential von Anschlüssen verstanden werden
kann, dann stellt sich jeder Beschäftigung mit einem
Text die Frage, wie sich relevante „Anschlüsse“ ermitteln
und von anderen, irrelevanten „Anschlüssen“ abgrenzen
lassen.
Mögliche erste Hilfe leistet eine Segmentierung des
Begriffs, zu der linguistische Differenzierungen des Terminus
beigetragen hat. „Umgebungen“ bzw. „Anschlußmöglichkeiten“
von Texten können sein: (a) sprachliche Ko-Texte; (b)
nicht-sprachliche kommunikative Kontexte, (c) Handlungs-
und Situationskontexte und (d) Wissenskontexte. Damit aber
ist noch nicht klar, wie die originären Kontexte von
historischen Textmaterialien rekonstruiert werden können
– obwohl doch gerade diese Rekonstruktionen notwendig sind,
um Bedeutungszuweisungen oder historische Einordnungen nicht
beliebig werden zu lassen. Denn allein durch eine genaue
Re-Kontextualisierung, d.h. durch eine materialgesättigte
Rekonstruktion ihrer historischen „Umgebungen“ kann
der Beliebigkeit in Aussagen über einen Text und seiner willkürlichen
Verknüpfung mit anderen „Anschlußmöglichkeiten“
angemessen entgegengetreten werden.
Entscheidende Bedeutung kommt deshalb einer reflektierten
Bildung und Verwendung von Kontexten zu, die davon ausgehen
muß, daß es keine quasi-natürliche Limitierung
des Kontext-Materials gibt. Um es knapp und thesenhaft zugespitzt
zu sagen: Den Verbindungen zwischen Text bzw. Textbestandteilen
und Kontextelementen sind keine „natürlichen“ Grenzen
gesetzt; ein Text bzw. jedes einzelne Textvorkommnis läßt
sich mit allem verbinden, was seinem Interpreten oder einem
historischen Beobachter einfallen mag. Damit aber nicht die
gesamte Kontextfülle als gleichrelevant für die
Zuweisung von Bedeutung gilt, müssen die Bestandteile
dieses Kontextes (extratextueller, intra- und intertextueller
Herkunft) gegliedert, d.h. durch Unterscheidung einzelner
Segmente und durch Bestimmung ihrer Beziehung untereinander
individualisiert werden. Die Auswahl von Kontextsegmenten basiert
auf identifizierenden und verknüpfenden Annahmen, die den
primären Kontext eines zu interpretierenden Textes auszeichnen,
andere Kontextsegmente als subsidiär charakterisieren
bzw. einige ausschließen.
Von diesen Überlegungen ausgehend, lassen sich folgende
normative Aussage bzw. Imperative formulieren. Um illegitime
Anachronismen und Beliebigkeit zu vermeiden, hat eine reflektierte
Kontext-Bildung nach Regeln und Kriterien zu
erfolgen. Neben dem Ökonomie-Prinzip, das etwa bei der
Herstellung von Einflußbeziehungen zu beachten ist
und der nächstliegenden Quelle einen privilegierten Status
zuweist, kommt der Verfügbarkeitsmaxime eine besondere Bedeutung
zu: Kontext-Elemente, die in Verbindung mit einem zu deutenden
oder zu interpretierenden Text gebracht werden, müssen
zur Zeit seiner Entstehung verfügbar, d.h. vorhanden
und zumindest der Möglichkeit nach greifbar gewesen
sein. Eine reflektierte Kontext-Verwendung kann
es nur geben, wenn genau erklärt und begründet
wird, wie und warum spezifizierte Relationen
zwischen Text und Kontextelementen hergestellt werden. Denn
die Möglichkeiten zur Herstellung dieser Relationen
sind vielfältig und ihre Auswirkungen – etwa auf die
Interpretation als einem klassischen Feld der Kontextgenerierung
und –verwendung – kaum zu unterschätzen. Unterscheiden
lassen sich dabei kausale, symbolische ,
metonymische und hierarchische Relationierungen
– wobei die Herstellung kausaler Relationen etwa
durch Ermittlung von Einflußbeziehungen und symbolische
Verknüpfungen durch die „Dechiffrierung“ von zeichenhaft
verschlüsselten Aussagen über Autor, Generation,
Gesellschaft etc. realisiert werden. Metonymische Relationen
zwischen Texten und ihren Kontexten entdecken Vertreter einer
neuhistorizistischen Literaturforschung, wenn sie die Gleichrangigkeit
von Artefakten behaupten und die in ihnen zirkulierende „soziale
Energie“ herausarbeiten wollen. Hierarchische Relationen
zwischen Text und Kontext spielen beispielsweise in editionsphilologischen
Bemühungen eine Rolle, wenn durch Einbettung eines überlieferten
Textes in eine erschlossene Abfolge von Vorstufen eine Text-Kontext-Hierarchie
etabliert wird, um Deutungen bzw. Erklärungen möglich
zu machen.
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II
Die erwähnte Generierung einer Text-Kontext-Hierarchie durch die Rekonstruktion integraler Textbausteine und Bearbeitungsstufen erlaubt die Überleitung zum zweiten Abschnitt meiner Überlegungen. Wie angekündigt, werde ich hier den Möglichkeiten einer computerphilologischen Modellierung von Text-Kontext-Beziehungen nachgehen. Dabei will ich in exemplarischer Weise auf Projekte eingehen, die die zentralen Potentiale des Computers „Rechnen – Speichern – Suchen“ zur Akkumulation, zur Präsentation und zur Recherche philologisch relevanter Inhalte nutzen. Die beiden ersten Projekte, die ich vorstellen werde, widmen sich den Produktionen eines Autors, die zentrale Fragen nach der Identität eines Textes bzw. eines literarischen Werkes aufwerfen. Das erste Projekt ist ein Editionsvorhaben des englischen Unternehmens Chadwyck-Healey, das die kritische Kafka-Ausgabe des S. Fischer-Verlages elektronisch umgesetzt hat.
Die auf CD-ROM vorliegende und im WWW gegen Gebühr
zu benutzende Ausgabe steht unter dem Titel Kafkas Werke
auf CD-ROM bzw. Kafkas Werke im WWW – obwohl
es sicher schwerfällt, dem Autor Kafka – der Zeit
seines Lebens nur wenige Texte veröffentlichte und
seine drei Romane unvollendet hinterließ – „Werke“
zuzuschreiben. Nur in Paranthese sei hier angemerkt, daß
die nicht sonderlich korrekte Rubrizierung vom englischen
Verlag – vermutlich aus merketingstrategischen Gesichtspunkten
– gewählt wurde; die seit 1982 erschienene Ausgabe
des S. Fischer-Verlags trägt den Titel Franz Kafka
Kritische Ausgabe. Schriften und Tagebücher .
Das WWW-Angebot stellt die Möglichkeiten einer digitalen Edition in starker Weise heraus:
Fragt man genauer nach der „neuen Dimension“ dieser digitalen Ausgabe und speziell nach veränderten bzw. „interaktiven“ Formen der Modellierung von Text-Kontext-Beziehungen, dann fällt die Antwort zwiespältig aus. Einerseits liefert die digitale Ausgabe, die auf einer SGML-konformen Datenbank beruht, einen zuverlässigen Text, der die Stärken des Auszeichnungssystem nutzt und sich auf verschiedene Weise recherchieren läßt. Textelemente lassen sich exportieren und in Anwendungen weiterverarbeiten. Auch sind zumindest die Tagebücher mit Kommentaren versehen, die durch Verbindungselemente (sprich: Links) erreicht werden können. Andererseits aber bildet die elektronische Edition nur die Buchausgabe in exakter Weise ab. Um identische Zitationen von Papier- und digitaler Edition zu gewährleisten, werden auch in der elektronischen Version die Buchseiten der Fischer-Ausgabe vollständig und unverändert wiedergegeben und mit digitalem Beiwerk gleichsam „umrahmt“. Die „Verlinkung“ der Seiten von jeweiligem Text- und Apparatband ist hier zu sehen:
Am Anfang jeder Textseite, zu der es „Editorische Eingriffe“,
„Varianten“ oder wie im Fall der Tagebücher
einen „Kommentar“ in den Apparat-Bänden gibt,
kann man durch Aktivierung der Verweis-Button den entsprechenden
Kontext aufrufen. Dieser erscheint in einem separaten Fenster
unter der Überschrift „Hyperlink“. Innerhalb
der Kommentare zu den Tagebucheinträgen finden sich weitere
Verweise, die zu Bilddateien – etwa zu Zeichnungen in
den Tagebüchern oder zu Fotographien in den Kommentaren
– führen. So ergibt sich eine vernetzte Struktur,
die zwar gewöhnungsbedürftig, für rasche
Nachschlage-Leküren aber brauchbar ist:
Was aber bereits in der gedruckten Ausgabe durch die
Herstellung eines linearen Fließtextes verloren ging,
wird auch in der elektronischen Ausgabe nicht wieder hergestellt
und dem Leser zugänglich gemacht: Die eigentümliche
Gestalt von Kafkas Schreibprozess, die mehrfach zu exegetischen
Bemühungen eingeladen hat und in der Tat eine besondere
Form des Umgangs mit Text und Kontext erfordert. Denn
Kafkas handschriftlich hinterlassene Texte erweisen sich
im buchstäblichen Sinne als „Textnetze“ mit Anschlüssen
und Überschneidungen, Parallelwegen und Sackgassen: Wenn die in der Handschrift sichtbaren Stufen des Schreibprozesses mitsamt ihren Streichungen und Überschreibungen sich ebenso als „Kontext-Elemente“ einer Äußerung identifizieren lassen wie die materialen Träger des Geschriebenen und die hier erkennbaren „Spuren“ äußerer Schreib-Bedingungen, dann ist – und vor allem bei einem Autor wie Kafka – jedes Detail bedeutungsrelevant und auswertbar. In der von Chadwyck-Healey vertriebenen Digital-Edition werden diese bedeutungsrelevanten Details verbal bzw. durch editorische Zeichen beschrieben – was dann so aussieht:
Genau diese den
Text umgebenden bzw. strukturierenden Details aber unmittelbar
sichtbar und auswertbar gemacht zu machen ist eine wesentliche
Leistunge der von Roland Reuß und Peter Staengle
im Stroemfeld-Verlag besorgten Historisch-Kritischen
Kafka-Ausgabe, die in einer Hybrid-Edition als Verbindung
von Buch und CD–ROM vorliegt. Diese auch als „Archiv-Ausgabe“
bezeichnete Edition beruht auf einem bestechend einfachen
Gedanken: Sie gibt die durch hochauflösende Scanns
erzeugten Faksimiles der Originalhandschriften und eine
diplomatische Umschrift des Textes wieder:
Zugleich stellt sie den ursprünglichen Zusammenhang der Überlieferung wieder her, dessen Spezifik gerade darin besteht, daß es keinen fixierten Zusammenhang gibt. So versammelt etwa die Ausgabe des Process -Romans die vorhandenen Textbestandteile genau so, wie Kafka sie verfertigte und wie sie heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach eingesehen werden können – und zwar in 16 Heften in einem Schuber, so daß jeder Leser jetzt selbst die Plausibilität von Max Brods und Malcolm Pasley Anordnungen überprüfen kann. Die Ausgabe reproduziert gleichsam „urkundlich“ die Manuskripte, ohne irgendeine Verknüpfungsstruktur bereitzustellen und über den Text zu legen. Alle Aufgaben der Verbindung und Linearisierung fallen dem Leser zu, der nicht nur seinen „eigenen“ Text zu erstellen hat, sondern vor allem auch den Akt des Schreibens, Streichens und Neuschreibens erleben kann.
Wie erwähnt, ist den Bänden der von Roland Reuß
und Peter Staengel betreuten Kafka-Ausgabe ein digitales
Medium mitgegeben. Eine CD-ROM, die die Faksimiles und die
diplomatische Umschrift im plattformunabhängigen Format
PDF enthält, soll nach Worten des Herausgebers Roland
Reuß als „Lesehilfe“ dienen. Tatsächlich erlaubt
der digitale Datenträger einiges, was der Papierausgabe
unmöglich ist: Die hochauflösend gescannten Schriftträger
lassen sich beliebig vergrößern, so daß
nahezu jede Pore des von Kafka beschriebenen Papiers und
noch der letzte Schlenker seiner Handschrift sichtbar wird.
Die Möglichkeit, Schriftzüge, Streichungen und
Verbesserungen auf einer Benutzeroberfläche verfolgen
und vergleichen zu können, dürfte nicht nur für
Graphologen von Interesse sein. (Schon der berühmte
Satz „Jemand mußte Josef K. verläumdet haben,
denn ohne daß er etwas Böses getan hätte,
wurde er eines Morgens verhaftet“, weist eine Korrektur auf,
die von nicht geringer Tragweite ist und zu Fragen herausfordert
– denn ursprünglich hatte Kafka formuliert, daß
Josef K. eines Morgens „gefangen war“.) Zugleich erlaubt
der elektronische Textkorpus eine bequeme Volltextrecherche
und kann auf diese Weise zu einem nicht zu verachtenden Hilfsmittel
für quantative und qualitative Analysen werden. Nicht
ausgenutzt werden allerdings die Möglichkeiten einer
Vernetzung von Text- und Kontextelementen, die die digitale
Plattform geboten hätte.
Wie die knappen Hinweise zeigen, nutzen die vorgestellten
Kafka-Editionen die Potentiale einer computerunterstützten
Philologie nur bedingt. Sie erlauben zwar gezielte Recherchen
innerhalb der erfaßten Texte und Varianten, vergeben
aber die Chance, durch die Sammlung und Bereitstellung von
umfassenden Kontext-Materialien und deren enge Verknüpfung
mit dem Text-Material eine materialgesättigte Grundlage
für weitergehende Forschungen zu schaffen. Denn wenn
die Stärken des Computers in Rechnen, Speichern, Suchen
bestehen, dann sind für Philologen vor allem die Fähigkeiten
zur Speicherung und Durchsuchung großer Text- und Kontextbestände
relevant.
Genau diese Möglichkeiten aber nutzt ein Projekt,
dessen besondere Leistungen hinsichtlich der Modellierung
von Text-Kontext-Beziehungen nur gelobt werden kann:
Wenn ich dieses Projekt an dieser Stelle besonders hervorhebe, dann nicht nur deshalb, weil seine Produzenten aus München und aus dieser Fakultät kommen. Es ist in mehrfacher Hinsicht eine Fundgrube – und soll aus diesem Grund hier nähere Aufmerksamkeit erfahren. Die CD-ROM, die 1998 als Bestandteil der Hybridedition Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte erschien, löst das im Nebentitel gegebene Versprechen in gleichsam mustergültiger Weise ein.
Denn die Silberscheibe enthält nicht nur sämtliche
Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775
(mitsamt späteren Überarbeitungen). Sie versammelt
unter der Überschrift „Kontexte“ auch überaus
umfangreiche Textsammlungen mit den Schwerpunkten „Stoffe
und Vorlagen einzelner Werke“, „Literarische Ausdrucksformen
der Zeit“, „Dichtungs- und Lebenskonzepte“,
„Briefe an Goethe“sowie „Zeitgenössische
Berichte und Urteile über Goethe“. Im Abschnitt
„Kontexte“ finden sich zugleich auch „Rezensionen,
Polemiken, Parodien“ sowie Äußerungen von
Zeitgenossen über den Dichter. Zur geistig-kulturellen
Umwelt, mithin zum Kontext von Goethes Werk gehören zudem
Text-Bestände, die unter der Überschrift „Semantische
Vorräte“ verfügbar sind. Hierzu zählen
die unter dem Titel „Ephemerides“ versammelten
Exzerpte und Notizen, die ein Lektüreprotokoll des jungen
Goethe bilden und als Zeugnis der persönlichen wie
der allgemeinen Bildungsgeschichte gelesen werden können
ebenso wie das Verzeichnis der elterlichen Bibliothek,
das 1953 durch Franz Götting erstellt wurde. Als
„semantische Vorräte“ finden sich aber auch die
digitalen Wiedergaben von bildungsgeschichtlichen Zentralwerken
auf CD: Zum einen die faksimilierte Wiedergabe von Benjamin
Hederichs Mythologischem Lexikon in der von
Johann Joachim Schwabe 1770 publizierten Version; zum
anderen die z.T. in drei Fassungen vorgehaltene Bibel.
Eine Frage – die jedoch die Leistung der Herausgeber Karl Eibl, Fotis Jannidis und Marianne Willems nicht schmälern soll – betrifft die auf CD nicht aufgenommenen Texte. So läßt sich etwa in Goethes autobiographischer Darstellung Dichtung und Wahrheit nachlesen, welche Bedeutung hermetische Texte wie Georg von Wellings Opus mago-cabbalisticum in seiner Frankfurter Krankheitszeit gewann und wie stark diese Werke auf die Genese seiner „Privatreligion“ wirkten. Rolf Christian Zimmermann hat diesen Elementen im „Weltbild des jungen Goethe“ eine umfangreiche Untersuchung gewidmet. Wenn diese Elemente nun nicht auf dem digitalen Datenträger vorhanden sind, kann dies natürlich nicht bedeuten, daß sie ohne Relevanz für die Entwicklung des Autors und seinen Wissenskontext wären. Ohne Zweifel sind sie relevant – und erinnern an die Pflicht, sich zur Bildung und Verwendung eines adäquaten Kontextes nicht allein auf digital verfügbare Quellen zu verlassen. |
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III
Die CD-ROM-Komponente zur Hybrid-Edition Der junge
Goethe hat mich – wenn ein solch persönliches
Wort erlaubt ist – schwer beeindruckt. Die Bereitstellung
einer Fülle von Materialien in einer umfassend zu erschließenden
Form stellt eine meines Erachtens überaus gelungene
Anwendung computerputerphilologischer Praxis in einem Kerngebiet
der Literaturforschung dar. Für mich und meine Lehrtätigkeit
hatte die Bekanntschaft mit diesem Projekt nachhaltige Folgen.
Als Ergebnis eines Seminars zu Thomas Manns Roman Doktor
Faustus, das ich im Wintersemester 2001/02 anbot, entstand
eine CD-ROM-Edition, die ebenfalls das Programm FolioViews
nutzt, um den textuellen wie kontextuellen Reichtum des Werkes
digital verfügbar zu machen.
Es ist bekannt, welche Fülle von expliziten und impliziten
Verweisen und Anspielungen der Roman über das Leben
des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn enthält.
Diese Verweise auf andere Texte, auf Bilder und vor allem
auf musikalische Quellen können erlebbar und nachvollziehbar
gemacht werden, wenn der digital erfaßte Text segmentiert
und die betreffenden Textelemente mit den entsprechenden
Kontextmaterialien sprachlicher, bildkünstlerischer
oder musikalischer Herkunft „verlinkt“ werden.
Die unter studentischer Mithilfe erstellte CD-ROM will den Reichtum der Textbezüge erfassen, indem sie zahlreiche Quellen versammelt und als „Umgebungen“ des Romantextes präsentiert. Die Vielfalt dieser Kontextbestände kann hier nur angedeutet werden – sie reichen von der Schilderung der Apokalypse im Johannes-Evangelium bis zu Adornos Philosophie der neuen Musik , die nicht nur im Teufelsgespräch bedeutsam wird und deren z.T. wörtliche Übereinstimmungen mit Thomas Manns Text nun exakt bestimmt werden kann. Kontexte im Sinne von „Anschlußmöglichkeiten“ bzw. „Umgebungen“ des Roman-Textes sind zugleich die zahlreichen bildkünstlerischen Quellen, die Thomas Mann vor bzw. während der Arbeit am Doktor Faustus zur Kenntnis nahm und deren spezifisch literarische Verarbeitung nun durch die Parallel-Präsentation von Text und Bildzeugnis auf einer Benutzeroberfläche analysiert werden kann. Wesentliche „Umgebungen“, „Anschlüsse“ bzw. „Kontexte“ des Romans sind schließlich die zahlreichen explizit oder implizit erwähnten musikalischen Quellen, die von mittelalterlicher Choralmusik bis zu Zwölfton-Kompositionen Arnold Schönbergs reichen. Die CD-ROM bietet nun die Chance, die z.T. wörtlich von Adorno übernommenen und „aufmontierten“ Erläuterungen innerhalb des Romantexts mit den betreffenden Musikstücken selbst zu vergleichen, indem etwa die Erläuterungen von Wendell Kretzschmar zu Beethovens op. 112 mit der entsprechenden Klangdatei verlinkt sind.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den methodischen Überlegungen
sagen, welche dem Prozeß der Kontext-Bildung für
dieses komplexe Werk zugrunde lagen. Wie an der Auflistung
des Inhaltsverzeichnisses zu erkennen, gelten neben dem Romantext
selbst vor allem die Eigenkommentare des Autors und seine
Aufzeichnungen aus der Entstehungszeit des Romans als „Schlüssel“,
um spezifizierte Kontexte zu ermitteln. Von zentraler Bedeutung
sind dabei die Tage- und Notizbücher sowie der vor
allem von Thomas Mann als „Roman eines Romans“ veröffentlichte
Bericht Die Entstehung des Doktor Faustus . Doch
wird auch hier wieder deutlich, welche Sensibilität
im Umgang mit vermeintlich eindeutigen Kontext-Konstruktionen
erforderlich ist. Denn die 1949 publizierte Schrift Die
Entstehung des Doktor Faustus weist Relativierungen
von Einflußbeziehungen auf, die durch den Datenbestand der
CD-ROM nun als retrospektive und von bestimmten Interessen diktierte
Stilisierungen identifiziert und nachgewiesen werden können
– indem etwa der in Thomas Manns Schrift Die Entstehung
des Doktor Faustus herabgestufte Anteil Adornos an zentralen
Passagen des Romans nun bis in Wortwahl und Satzkonstruktion
ermittelbar ist. Selbstverständlich sind solche intertextuellen
Vergleiche auch ohne Computer möglich – doch jetzt
liegt das Material auf CD vor und macht die Arbeit leichter.
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IV
Da ich nun bereits mit der Darstellung eigener Projekte
und also mit Werbung in eigener Sache begonnen habe, kann
ich entsprechend fortfahren und komme zum dritten Abschnitt
meiner Überlegungen. Dieser letzte und abschließende
Teil soll ein Projekt vorstellen, das gegenwärtig durch
Dorit Müller und mich am Institut für deutsche
Literatur realisiert wird – eine DVD-Edition unter dem Titel:
Das Jahr 1913. Texte, Bilder, Filme.
Ausgangspunkt dafür waren eine Lehrveranstaltung meiner Kollegin Dorit Müller zum Thema und ein Buch, das im Frühjahr 1914 im Leipziger Teubner-Verlag erschienen war.
Möglicherweise findet diese befremdlich anmutende
Wahrnehmung des Literaturjahres 1913 durch den zeitgenössischen
Leser Richard Moritz Meyer eine Erklärung, wenn die
Differenz zwischen dem unmittelbaren Blick des beteiligten
Teilnehmers und dem retrospektiven Blick des späteren
Beobachters berücksichtigt wird. Historische Distanz
muß jedoch nicht bedeuten, daß der Blick des
späteren Beobachters einen wie auch immer privilegierteren
Status aufweist als die Wahrnehmung des zeitgenössischen
Akteurs. Auch wenn die Dichte von Informationen über bestimmte
Autoren, Verkehrsformen und Schreibverhältnisse mit
wachsendem zeitlichen Abstand zunehmen kann, haben spätere
Beobachter und Erforscher keinen per se „besseren“, „genaueren“
oder „weiteren“ Zugang zu ihren Forschungsgegenständen.
Denn zwischen sie und die entschwindenden historischen Phänomene
schiebt sich mit jeder dazu produzierten Textzeile eine weitere
Schicht von Beobachtungen, Deutungen und Erklärungen,
die ihrerseits den Blick in einer Weise modellieren, daß
eine gleichsam „unverstellte“ Begegnung mit Texten oder
anderen Artefakten kaum mehr möglich ist. Um es kurz
und zugespitzt zu sagen: Wenn der zeitgenössische Beobachter
Richard Moritz Meyer die literarische Welt des Jahres 1913
anders beobachtet, deutet und bewertet als späterer
Literaturforscher, dann muß nicht unbedingt Richard
Moritz Meyers Blickwinkel eingeschränkt und verengt
sein. Er nimmt einfach andere Dinge wahr als ein späterer
Beobachter, dessen Perspektive schon von vorfindlichen literaturgeschichtlichen
Darstellungen und ihren mehr oder weniger expliziten Auswahl-
und Wertungskritierien imprägniert ist.
Diese Differenz zwischen der Wahrnehmung des zeitgenössischen
Beobachters und dem Blick des retrospektiven, von vorgängigen
Auswahl- und Bewertungskritierien vorgeprägten Literaturforschers
motivierte unser Unternehmen, mit den Mitteln des Speichermediums
DVD den literarischen Reichtum des Vorkriegsjahres 1913 in
seinem originalen Zustand zur Zeit seiner Entstehung zu
erfassen und in einen wechselseitigen Kontext mit Entwicklungen
in Fotografie, Bildender Kunst und Film zu stellen.
Die gegenwärtig entstehende DVD Das Jahr 1913. Texte, Bilder, Filme enthält in der Rubrik „Literarische Texte“ ausgewählte Einzelwerke, die als Einzelpublikationen im Jahr 1913 veröffentlicht wurden – von Gottfried Benns Gedichtsammlung Söhne über Franziska von Reventlows Roman Herrn Dames Aufzeichnungen bis zur Rilke-Biographie von Paul Zech. Sie enthält zum anderen den digital erfaßten Jahrgang 1913 ausgewählter literarischer Zeitschriften und Jahrbücher in gleichsam „zweifacher“ Form: Zum einen befinden sich auf der DVD die Beiträge als recherchierbare Volltexte; zum anderen die in hoher Auflösung digitalisierten Originalseiten dieser Zeitschriften, um die ursprüngliche Typographie und Seitengestaltung dieser Periodika und damit also auch den Ursprungs-Kontext der Einzeltexte zu bewahren.
In dieser Weise sollen auch zumindest zwei Tageszeitungen mit ihren Artikeln des Jahrgangs 1913 erfaßt werden. Gedacht ist dabei zum einen an die Vossische Zeitung , zum anderen an die Frankfurter Zeitung – doch stellt die Erfassung so großer Textmengen in Fraktur einen ziemlichen Aufwand dar, der noch nicht angegangen wurde. Bereits vorhanden sind philosophische und wissenschaftliche Schriften mit dem Erscheinungsjahr 1913: Von Walther Rathenaus 1913 erstmals erschienener (und im gelichen Jahr dreimal aufgelegter) Schrift Zur Mechanik des Geistes bis zu Werner Sombarts Abhandlung Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen . (Das für die Digitalisierung genutzte Exemplar des Sombart-Werkes stammt aus der Gerhart-Hauptmann-Bibliothek, die in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz am Potsdamer Platz aufbewahrt wird.)
Wie aus Titel und Inhaltsverzeichnis gleichfalls zu ersehen,
wird die fertige DVD nicht nur Texte enthalten. In der Rubrik
„Bilder“ versammelt sie zum einen fotographische Zeugnisse
des Vorkriegsjahres 1913, das für die Geschichte des
Mediums schon deshalb nicht ohne Bedeutung ist, weil in diesem
Jahr durch den bei den Optischen Werken Ernst Leitz in Wetzlar
angestellten Ingenieur Oskar Barnack die erste Kleinbildkamera
der Welt entwickelt wurde. Dieser unter dem Namen „Leitz-Camera“
bzw. „Leica“ später berühmt gewordene Typ von
fotographischem Aufnahmegerät markierte eine neue Epoche
in der Mediengeschichte, da durch ihn eine bis dahin schon
rein technisch unmögliche Flexibilität in der
Erzeugung fotographischer Aufnahmen ermöglicht wurde.
Die DVD wird – wenn alles gut geht – die ersten mit dieser
Kleinbildkamera erstellten Bilder enthalten; zugleich natürlich
auch zahlreiche andere Fotographien, bei deren Akkumulierung
auf die schon vorhandenen grossen Sammlungen des York-Projektes
zurückgegriffen werden kann. In der Rubrik „Bilder“
werden daneben Werke der Bildenden Kunst versammelt, die
1913 entstanden – vom Lichtgebet des als Fidus berühmt
gewordenen Hugo Höppner bis zu Franz Marcs Turm
der blauen Pferde . Schließlich gibt es noch die
Rubrik „Filme“. Was hier digital bereitgestellt wird, ist
mehr als nur „Füllmaterial“ für die immense Speicherkapazität
einer DVD. Denn im Jahr 1913 entstand nach einem Buch von
Hans Heinz Ewers der erste deutsche Autorenfilm Der Student
von Prag (den Henrik Galeen 1926 gleich noch einmal
verflmte). Von den überaus zahlreichen im Jahr 1913
realisierten Filme können jedoch nur die Werke aufgenommen
werden, die erhalten und verfügbar sind: Bislang sind
das die Streifen Der Andere von Max Mack und die von
Max Reinhardt inszenierten, noch ziemlich theaternahen Filme Eine
Venezianische Nacht und Die Insel der Seligen
.
Was leistet nun eine solche digitale Sammlung von Texten, Bildern und Filmen, deren Gemeinsamkeit zu erst einmal in ihrem gemeinsamen Entstehungs- bzw. Veröffentlichungszeitraum besteht? Welche Erkenntnismöglichkeiten ergeben sich aus dieser synchronen Akkumulation von Quellen für Literatur-, Medien- und Kulturhistoriker?
Die angestrebte Leistung dieser Akkumulation von unterschiedlichen
Medien- und Datentypen, die auf einer Benutzeroberfläche
präsentiert werden, kann knapp und einfach benannt werden:
Mit der Bereitstellung einer umfassenden Menge von Texten,
Bild- und Filmdokumente wird zum einen anschaulich sichtbar,
was als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ umschrieben
worden ist: Der durch eine Jahreszahl begründete Querschnitt
setzt ein Denken in historischen Abfolgen zumindest kurzzeitig
außer Kraft und relativiert damit Vorstellungen von
Verlaufsformen und Entwicklungen, die vom unvermeidlichen
Wissen des späteren Beobachters diktiert sind. Indem
das DVD-Projekt Das Jahr 1913 zahlreiche (wenn natürlich
auch nicht alle) literarischen Quellen digital bereitstellt
und die Vielfalt der in Zeitschriften veröffentlichten
Texte in ihren originalen Kontexten präsentiert, demonstriert
es die materiale Fülle der literarischen Produktion
und läßt Kanon und Kanonbildung als Auswahl und Konstruktion
deutlich werden.
Damit aber sind zugleich wesentliche Probleme benannt,
welche die vorgestellte DVD-Edition mit anderen Projekten
einer synchronen Geschichtsdarstellung teilt. Bereits der
Titel Das Jahr 1913 kann an drei Papier-Bücher
erinnern, die einen Schnitt durch die Zeit praktizierten:
Zum einen an Jürgen Kuczynskis 1903, zum anderen
an Jean Starobinskis 1789; zum dritten an Hans-Ulrich
Gumbrechts 1926. Womit die Ähnlichkeit in der
Titelgebung nicht bedeuten soll, daß in irgendeiner
Weise Vergleichbarkeit angestrebt wird. Das wäre wohl ziemlich
vermessen.
Alle drei erwähnten Werke – also Jürgen Kuczynskis
1903 , Jean Starobinskis 1789 und Gumbrechts
1926 – versuchen sich an einer synchronischen
Geschichtsschreibung – wobei die unterschiedlichen Intentionen
bereits in den Nebentiteln erkennbar sind. Während Jean
Starobinski für sein Buch über das Jahr des Bastille-Sturms
den Nebentitel Les Emblemes de la raison [Die
Embleme der Vernunft] wählte und damit schon zu
erkennen gab, welche geschichtsphilosophische Deutungsperspektive
seiner Darstellung zugrunde lag, lautet der vollständige
Titel des Werkes von DDR-Wirtschaftshistoriker Jürgen
Kuczynski 1903: Ein normales Jahr im imperialistischen
Deutschland. Hans-Ulrich Gumbrechts 1926 trägt
im englischen Original den Nebentitel „Living at the Edge
of Time“, was in der deutschen Übersetzung als „Ein
Jahr am Rand der Zeit“ firmiert.
Leitend für die Methodik in Gumbrechts synchroner
Darstellung des dezidiert nach dem Zufallsprinzip ausgewählten
Jahres 1926 – es hätte, so der Autor selbst, auch das
Jahr 926 sein können – sind sechs „Faustregeln für
das Schreiben von Geschichte“, die unter dem Titel „Rahmen
– Als es mit dem Lernen aus der Geschichte vorbei war“
vorgestellt werden. Die erste Regel besagt, daß zwischen
Vergangenheit und Gegenwart keine kontinuierliche Beziehung
besteht. Damit entfalle die Notwendigkeit, bestimmte Jahre
als besonders wichtig bzw. als „Schwellenjahre“ auszuzeichnen
und in dieser vorgängig fixierten Perspektive zu erforschen.
Aus dem so begründeten Ziel, gleichsam „Panthersprung“-mäßig
„Vergangenheit zu isolieren und präsent zu machen“,
ergibt sich die zweite Regel: Auch innerhalb der zu untersuchenden
Zeitspanne wird der Imperativ der Sequentialität außer
Kraft gesetzt. Welche Ereignisse, Texte und Artefakte Eingang
in das Buch über das Jahr 1926 finden, hängt nicht
von ihrer Relevanz in bezug auf einen späteren Beobachter
bzw. unsere Gegenwart ab, sondern einzig und allein von ihrer
Relevanz für die Welt im Jahre 1926, d.h. von ihrer
Bedeutsamkeit für die zeitgenössischen Akteure.
Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, Tragweite
und Ergebnis einer so begründeten Form sychroner Geschichtsdarstellung
ausführlich vorzustellen und zu diskutieren. Für
die hier zentrale Frage nach der Modellierung von Text-Kontext-Verhältnissen
in historischer Synchronie erweist sich dennoch ein Blick
auf das von Gumbrecht gewählte Verfahren als aufschlußreich.
Denn um „Simultaneität“ herzustellen, ordnet
der Autor sein Material in 51 „Einträgen“ in
den Rubriken „Dispositive“, „Codes“ und „Zusammengebrochene
Codes“ an – wobei sich unter Eintragstiteln wie „Amerikaner
in Paris“, „Lichtspielhäuser“ oder „Männlich =
Weiblich“ inhaltliche Erläuterungen, Hinweise auf herangezogene
Quellen und Zitate sowie Verweise auf verwandte Einträge
finden. Dabei enthält das über 500 Seiten starke
Buch keine einzige Abbildung (was vom Autor als Test für
die Reichweite rein sprachlicher Mittel herausgestellt wird).
Was aber der Idee von einer scheinbar unmittelbaren Vergegenwärtigung
der „Welt von 1926“ besonders entgegensteht, ist die
in den Einzeleinträgen charakteristische Mischung von beschreibenden,
deutenden und wertenden Elementen. Der Autor beschränkt
sich nicht auf reine Deskription und die Collage von Textstücken,
sondern deutet, erklärt und bewertet durchaus – und
das führt auf den durchschnittlich zehn Seiten jedes
Eintrags zu einer entsprechend oberflächlichen Mixtur.
Genau dagegen aber richtet sich der Anspruch der DVD
Das Jahr 1913 . Sie nutzt die Möglichkeiten des
digitalen Speichermediums und den Enthusiasmus studentischer
Mitwirkender, um die vielfältigen Quellen selbst sprechen
zu lassen. Selbstverständlich sind nicht alle Zeugnisse
des literatur- und mediengeschichtlich bedeutsamen Vorkriegsjahres
auf der Silberscheibe digital abzubilden. Doch bieten die
erwähnten Darstellungen zeitgenössischer Beobachter
wie Richard Moritz Meyer einen ersten Anhaltspunkt, um zumindest
eine Perspektive auf die literarische und kulturelle Produktion
dieser Zeitspanne zu gewinnen und als Hinweis auf spezifizierte
Text-Kontext-Gefüge auszuzeichnen. Die Reflexion der zugrundeliegenden
Auswahl- und Verknüpfungsprinzipien bleibt ein unabdingbarer
Bestandteil jeder philologischen Tätigkeit – und also
auch der computerphilologischen Bereitstellung von Text-
und Kontextbeständen für eine ertragreiche Literatur-
und Medienforschung. Denn wenn wir eine kulturwissenschaftliche
Erweiterung des Faches wollen – und diesen Wunsch auch begründen
und forschungspraktisch umsetzen können – benötigen
wir gesicherte Fundamente.
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Dazu vermag Computerphilologie in einer Weise beitragen,
die ich abschließend noch einmal thesenhaft verknappt
zusammenfassen möchte.
These 1: Computerphilologie kann die zentrale Aufgabe,
relevante Kontexte für die philologische Arbeit mit
und an Texten bereitzustellen, partiell übernehmen –
besteht doch eine ihrer zentralen Aufgaben und Potenzen in
der Akkumulation von Datenmengen und deren Bereitstellung
für effektive Recherche und Weiterverarbeitung. Die
reflektierte Kontextbildung und –verwendung bleibt aber bleibt
Aufgabe jedes Wissenschaftlers, der sich an Kriterien –
und nicht an nur schwer greifbare Dinge wie „Takt“ oder
„Eingebung“ – zu halten hat. Computerphilologie kann dazu
bestimmte Informationen bereitstellen, die beispielsweise
dabei helfen, anachronistischen Bedeutungszuweisungen zu entgehen
– indem sie etwa Texte, künstlerische Artefakte und
andere Dokumente zeitlich so präzise markiert und mit Kontextinformationen
versieht, daß illegitime Übertragungen aus späteren
Perspektiven erschwert bzw. unmöglich gemacht werden.
These 2:
Die computerphilologische Modellierung von Text-Kontext-Verhältnissen
kann die „räumlichen“ Dimensionen von Kontexten
partiell wieder sichtbar und nachvollziehbar machen, indem sie
literarische Produktionen – namentlich Texte aus Zeitschriften,
Zeitungen, Sammelbänden – in ihrer ursprünglichen
„Textidentität“ und ihrer ursprünglichen
„Umgebungen“ das heißt also
(a) in ihrer ursprünglichen Typographie und Textgestaltung;
(b) in ihrem ihrem ursprünglichen Zusammenhang mit
anderen Texten zugänglich und recherchierbar macht.
Mein allerletzter Satz betrifft die vorgestellten Projekte:
Beide Arbeiten verstehen sich als work in progress. Wer Vorschläge
hat zu Texten, Bildern, Filmen, die aufgenommen werden sollen,
kann sich bitte sofort melden – ein Exemplar der materialreichen
Silberscheiben als Dankeschön wird garantiert. Und
ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für die Aufmerksamkeit.
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