Nicht der Ellenbogen darf das Symbol unserer Gesellschaft sein
Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau zur Eröffnung der Anne-Frank-Ausstellung
am 30. August 1999 in Saarbrücken.
Herr Oberbürgermeister,
Herr Ministerpräsident,
meine Damen und Herren,
lebte Anne Frank noch, so wäre Sie meine Generationsgenossin. Ich bin anderthalb Jahre
jünger als sie heute wäre. Wenn ich in ihrem Tagebuch lese, und wenn ich mir die
Daten vergegenwärtige, dann überlege ich, wo ich an dem Tag wohl gewesen, was ich
wohl erlebt habe. Ob Post gekommen ist von dem Vater, der im Krieg war, ob ich im Luftschutzkeller
war, ob ich eine Klassenarbeit verpfuscht habe? - Und so entsteht ein
Stückchen Synchronität von zwei ganz verschiedenen Leben.
Eine Geschichte, auch die könnte ich datieren: Das war der Wechsel von der Grundschule
aufs Gymnasium den haben wir nicht so ernst genommen. Ernst genommen haben wir,
dass wir vom ersten Tag im Gymnasiuman keinen Tornister mehr trugen, keine "Tonne",
sondern eine Aktentasche in der rechten Hand. Wie sind wir mit dieser Aktentasche durch
die Straßen gegangen! Voller Stolz! Der rechte Arm war viel, viel länger vom Gewicht
dieses schönen Leders. Dann sind wir in die Straßenbahn eingestiegen, alle mit unseren Aktentaschen in der rechten Hand, und in dieser Straßenbahn stand auf dem, was man
früher Perron nannte, ein Mann. Für uns steinalt, wahrscheinlich 40! Der hatte auch
eine Aktentasche, aber er trug die Aktentasche nicht in der rechten Hand, nicht in
der linken Hand, sondern er hielt die Aktentasche vor der Brust fest. Es war eine alte
Aktentasche. Wir, die Schüler und Schülerinnen, haben ihn misstrauisch angesehen,
weil er die Aktentasche so merkwürdig trug. Als wir alle ausstiegen an der Endstation
an der Winzigbachstraße und er sich festhielt, sahen wir, dass die Aktentasche den Judenstern
verdeckte.
Der alte, vielleicht 40jährige Mann, hatte Angst vor zehnjährigen Jungen und Mädchen!
Er wollte nicht auf dem Perron dem Hass von Jungvolk oder Jungmädels oder solchen,
die er dafür hielt, ausgesetzt werden. Mir ist diese Geschichte, mir ist diese erste
Begegnung mit einem Juden in meinem Leben fest eingebrannt in die Erinnerung, und immer
wieder möchte ich rufen: Lassen sie uns eine Gesellschaft schaffen, in der keiner
Angst vor Kindern haben muss, in der keiner Angst vor Menschen haben muss, in der
wir, wie Theodor Adorno gesagt hat, ohne Angst verschieden sein können. Das ist die Botschaft
der Anne Frank, wenn ich sie richtig verstehe.
Wenn ich es richtig sehe, dann gibt es in der deutschen Nachkriegsgeschichte zwei
Bücher, die Menschen über Generationen hinweg bewegen. Das eine handelt von einer
Traumgestalt, von einem, der sagt: Du bist verantwortlich für das, was du dir vertraut
gemacht hast der kleine Prinz, die Gestalt eines geträumten Menschen, und daneben das
Tagebuch der Anne Frank, die Aufzeichnungen eines Mädchens, dem man das Recht absprach,
am Leben zu sein, und das dieses Absprechen des Rechtes auf Leben zuerst erlebt hat
in der Dachkammer und im Keller; ein Mädchen, das eingeübt wurde in das leise Treten,
damit keiner der Nachbarn etwas mitbekam. Nun baut sich diese elf-, zwölf-, dreizehnjährige
Anne Frank ihre Lebensgeschichte, ihre Zukunftsgeschichte.
Nun setzt sie sich auseinander mit Vater und Mutter, mit Nachbarn und Geschwistern,
mit denen, die sie lieben muss, obwohl sie sie nicht lieben will, und wir alle nehmen
Anteil an der Geschichte eines Kindes, das seine Pubertät erlebt, durchlebt und durchleidet und dem ein verbrecherisches System das Recht auf Erwachsen sein wegnimmt.
Wir wissen keinen Todestag. Aber wer, wie ich, den Vater Anne Franks kennenlernen
und mit ihm das Gespräch führen konnte, über die Jahre zuerst in Frankfurt und dann
in Amsterdam, dem nimmt die Gestalt von Anne Frank alles Traumhafte. Der hat vor
sich einen jungen lebendigen Menschen, der, wenn er heute lebte, siebzig wäre und der uns heute
sagen würde, Anne ist nicht der einzige Name, der schutzbedürftig ist, es kann auch
Memeth heißen. Wir leben in einer Zeit, in der Kulturen aufeinanderstoßen und in
der das Miteinanderleben offenbar weniger eingeübt wird als der Ellenbogen, den manche
für das Symbol unserer Gesellschaft halten.
Nein, nicht der Ellenbogen darf das Symbol unserer Gesellschaft sein, sondern die
ausgestreckte Hand; die Hand, die sich nicht zur Faust ballt, sondern die den anderen
grüßt, die dem anderen mitgibt, die dem anderen mitteilt. Das gilt für Erdbebengebiete,
das gilt für Gegenden, in denen Menschen hungern, aber das gilt auch für die soziale
Wirklichkeit in manchen unserer Städte.
Anne Frank mit ihrem Schicksal wäre nicht möglich gewesen ohne eine Entwicklung von
der Judenfremdheit über den Antijudaismus zum Antisemitismus auch in der Geschichte
der beiden Kirchen. Anne Franks Schicksal wäre nicht möglich gewesen ohne Entwicklungen, die ihren Ursprung im 19. Jahrhundert haben in alldeutschen Träumen und nicht erst
in der Zeit, die wir vom 30. Januar 1933 datieren.
Stärker als alle Zahlen, stärker als alle Statistiken kann uns eine Lebensgeschichte
wie die des jungen Mädchens Anne Frank zeigen, wie Mitmenschlichkeit aussehen müsste,
wenn es sie so gäbe, wie wir sie brauchen.
Weil diese Anne Frank in ihrer Lebenszeit keine Prominente war, sondern ein normales
junges Mädchen aus gutem Hause in Frankfurt, darum kommt keiner von uns mit der Aussage
davon, er selber könne ja doch nichts ändern, die Gesellschaft sei nun einmal so
wie sie ist. Die Gesellschaft ist so, wie wir sie werden lassen, wie wir sie sein lassen
oder wie wir sie verändern, indem wir unseren Sinn verändern, damit keiner mit der
Aktentasche vor der Brust vor uns Angst zu haben braucht. Damit keiner die Sorge
haben muss, er könne zusammengeschlagen werden und damit der Satz, dass der Fremdling bei
uns ein Gast sein soll, nicht eine alttestamentliche Erinnerung bleibt, sondern eine
gegenwärtige Zumutung ist, darum gibt es diese Ausstellung und darum möchte ich,
dass viele viele junge und ältere Menschen kommen, sehen, lesen, nachdenken und ihr Leben
ändern.
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