© Reinhold Wulff, Berlin

Schlagworte der kulturwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte werden in einem Sammelband anhand nordeuropäischer Beispiele historisch beleuchtet.

Der jetzt emeritierte Lundenser Historiker Sven Tägil hat in dem von ihm herausgegebenen und mit einer theoretisch fein geschliffenen Einleitung versehenen Band acht Experten zu Beiträgen über die Minderheiten- und Nationsbildungsproblematik in allen nordeuropäischen Gebieten gewinnen können. Dabei sind drei Ausgangspositionen zu unterscheiden: In den ersten drei Artikeln geht es um den Prozeß der Nationsbildung aufgrund der mehr oder weniger erfolgreichen Loslösung vom "Mutterland" Dänemark (Island, Färöer und Grönland), im zweiten um den Status der nationalen Minderheiten in den nordeuropäischen Ländern und abschließend wird der Immigrationsprozeß in Skandinavien seit dem Zweiten Weltkrieg beschrieben.


Sven Tägil (Hrsg.)
Ethnicity and Nation Building in the Nordic World
London: Hurst & Company, 1995
333 S., 12,95


In seinem Einleitungsessay versucht Sven Tägil, das Beispiel des Nordens als wichtigen Untersuchungsraum für Nationsbildungsprozesse herauszuarbeiten. Er bezieht sich auf die aktuelle englischsprachige Forschungsliteratur, setzt sich dabei insbesondere mit Hobsbawm auseinander, berücksichtigt französische und deutsche Konzepte aber kaum. Trotzdem ist dieser Beitrag als knappe Literaturübersicht nützlich.

Gunnar Karlsson analysiert den langen Prozeß der Selbständigkeitsbewegung in Island auf dem Hintergrund eines erwachenden isländischen Nationalbewußtseins seit etwa 1830. Er geht dabei explizit ein auf die Abhängigkeit der isländischen politischen Prozesse von dem dänischen Verhalten der Insel gegenüber. Eine knappe Übersicht wird hier vorgelegt mit einer ausführlichen Literaturliste, die aber für die meisten Leserinnen und Leser wenig nützlich sein wird, da die überwiegende Mehrheit der Titel isländischsprachig ist.

Hans Jacob Debes hingegen gibt in seiner Literaturliste zur färöischen Entwicklung angemessenerweise nur wenige Titel auf färöisch an und bezieht sich ansonsten auf dänische und englische Beiträge. Die Entwicklung auf diesen Inseln weist seit dem 19. Jahrhundert viele Parallelen zu der Islands auf, nur das hier eine vollständige Souveränität nicht erreicht (und auch mehrheitlich nicht gewollt) wurde.

Axel Kjær Sørensen beschreibt in seinem Aufsatz Greenland: From Colony to Home Rule die besondere Entwicklung auf dieser größten Insel der Welt, die aufgrund ihres bereits bekannten bzw. noch erhofften Reichtums an Rohstoffen unter der Erde und unter dem Wasser von Dänemark lange Zeit im Status einer Kolonie gehalten wurde. Sørensen analysiert die Schwierigkeiten in dieser unwirtlichen Umwelt, die nicht nur durch die wirtschaftliche Abhängigkeit von Dänemark, sondern auch durch das politische Interesse der USA geprägt wird.

Im dritten Block mit Aufsätzen befassen sich die Autoren mit "nationalen" Minderheiten in Nordeuropa. Zunächst gibt Helge Salvesen einen Überblick über den Charakter, die Struktur und die historischen Veränderungen der Samen in Norwegen, Schweden, Finnland und Rußland/der Sowjetunion. Dabei wird der die noch kaum entwickelten nationalen Grenzen überschreitende Zusammenhalt der samischen Kulturen und insbesondere die nomadisierende Lebensweise der Rentiersamen und ihr Effekt auf die Steuer-, Grenzziehungs- und Sicherheitspolitiken im äußersten Norden Europas beschrieben. Auf die wechselnden Integrations-, Akkulturations- bzw. Diskriminierungspolitiken wird eingegangen und darauf hingewiesen, daß gerade zum Zeitpunkt der nationalen Bestrebungen (und der Durchsetzung des Sozialdarwinismus als Ideologie), vor allem in Norwegen, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Anpassungsdruck auf die Samen stark zunahm, eine Norwegisierung durch Schule, Sprache und Religion angestrebt wurde. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Samen ihre politische Position langsam verbessern, zu einem Durchbruch kam es aber erst im Laufe der 1980er Jahre. Die im Aufsatztitel gestellte Frage, ob die Samen in vier Staaten eine einheitliche Nation bilden würden, kann in diesem Beitrag nicht beantwortet werden. Erst am Anfang befindet sich offensichtlich der Prozeß der Identifikation als einheitliche Urbevölkerungsgruppe, die gemeinsam ihre ähnlichen Interessen gegenüber vier nationalen Regierungen durchzusetzen gewillt sein muß.

Die nächsten drei Beiträge bearbeiten ebenfalls historisch orientiert die Situation der Schweden und der Finnen, Kvenen bzw. Karelier als nationale Minderheiten in Finnland, Norwegen, Schweden bzw. Rußland. Einar Niemi weist auf die Wanderungsbewegungen der Finnen/Kvenen auf der skandinavischen Halbinsel hin und deren unterschiedlichen Integrationsbestrebungen bzw.- anforderungen durch Norwegen und Schweden. Bis heute scheint sich keine der beiden Regierungen zu einem konsequenten Handeln gegenüber dieser Gruppe durchgerungen zu haben, man wartet ab, wie sich die Selbstorganisation der Kvenen (in Parallele zu der der Samen) in Zukunft entwickeln wird.

In einer ganz anderen Lage befindet sich die schwedischsprachige Minorität in Finnland. In Finnland, bis 1809 Teil des schwedischen Königreichs und dann autonomes Großfürstentum im russischen Zarenreich bis 1917, konnte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts eine eigenständige, selbstbewußte nationale Bewegung entwickeln, die das Finnische als nationale Forderung auf ihre kulturelle (und dann auch politische) Fahne heftete. Erst 1902 wurde die finnische Sprache offiziell der schwedischen gleichgestellt und mit der Unabhängigkeit Finnlands ergab sich für den jungen Staat unmittelbar die Frage des Verhältnisses von Schwedisch und Finnisch als Amtssprache auf nationaler und lokaler Ebene. Mit zahlreichen Sprachgesetzen seit 1922 wurde versucht, der ursprünglich (sozial und kulturell) dominierenden Sprache Schwedisch das Finnische als die Mehrheitssprache entgegen zu stellen und trotzdem der schwedischsprechenden Bevölkerung ihre Sprache als zweite Amtssprache zu bewahren. Im großen und ganzen kann dies als gelungen bezeichnet werden, obwohl die Mitgliederzahl der schwedischsprachige Minderheit kontinuierlich abnimmt, gelingt es (noch), den Status der Sprache zu erhalten - vor allem wohl, weil die schwedischsprachige Bevölkerungsgruppe recht konzentriert auf Aaland (offiziell einsprachig Schwedisch) und in Österbotten bzw. In der Hauptstadtregion lebt. Das Schicksal der Karelier, die vor allem in den Konflikten zwischen Finnland und der Sowjetunion in der Mitte unseres Jahrhunderts zerrieben zu werden drohten, beschreibt ebenfalls Max Engman.

Der jüngst verstorbene Historiker Lorenz Rerup geht in seinem Überblicksartikel ein auf die nationalen Bedingungen im Grenzraum Dänemark/Deutschland, in Nordschleswig, Südschleswig, Südjütland. Auch hier ist wieder das 19. Jahrhundert der Zeitraum, in dem nationale Konflikte, in diesem Fall mit dem äußersten Mittel zweier Kriege, zum Austrag kamen. Schien das deutsch-dänisch-friesische Zusammenleben zunächst recht konfliktfrei gewesen zu sein (hier teile ich allerdings die Meinung des Autors nicht!), kommt es aufgrund national-chauvinistischer Politiken zunächst in Schleswigholstein und Dänemark, dann auch in Preußen(-Deutschland) zwischen 1840 und 1945/55 immer wieder zum Austrag aggressiver Kultur-, Religions-, Sprach- und Schulpolitik. Um so erstaunlicher mag es erscheinen, daß seit den Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955 zum Verhältnis der Minderheiten beiderseits der dänisch-deutschen Grenze die Minderheitensituation in diesem Gebiet als vorbildlich angesehen wird.

Im letzten Teil des Bandes befaßt sich Harald Runblom mit der Entwicklung der Einwanderung nach Skandinavien seit Ende des Zweiten Weltkriegs und zeigt hier insbesondere den historischen und quantitativen Ausmaß der Arbeits-, Flüchtlings- und Asylsuchendenimmigration auf.

Alle in diesem Sammelband abgedruckten Beiträge eignen sich gut als knappe Einführungen in den jeweiligen Problemkreis für das englischsprachige Publikum. Für diesen Adressatenkreis gibt es sonst kaum ähnlich komprimierte Übersichten, für das in einer skandinavischen Sprache lesende Publikum allerdings sind andere Grundrisse bereits auf dem Markt. Auch erfüllt die Summe der Beiträge nicht den Ansprüchen und Untersuchungsaufgaben der Einleitung über konzeptionelle und problemorientierte Fragestellungen, die Beschreibung macht die Grundtendenz der Beiträge aus. Unbefriedigend erscheint auch die sehr unterschiedliche Qualität der Literaturverzeichnisse, die von knappsten Angaben von grundlegenden Werken (was dem Konzept des Bandes am besten zu entsprechen scheint) bis zu umfänglichen Listen, die keine Rücksicht auf das avisierte, englischsprachige Publikum nehmen, reichen. Insgesamt also bleibt ein zwiespältiger Eindruck.