Reinhold Wulff, Berlin

Fünfzig Jahre nach dem Ende des "Dritten Reichs" sind die Beziehungen zwischen niederdeutscher Geisteshaltung und faschistischer Ideologie immer noch nicht aufgearbeitet.

Im niederdeutschen/plattdeutschen Raum hat man lange gezögert, sich mit der Rolle dieser Sprachgruppe, ihrer Autorinnen und Autoren sowie ihrer politischen Sprachrohre in der Vorbereitung der nationalsozialistischen Macht"übernahme" und im System des faschistischen Terrors auseinanderzusetzen. Die spektakulären Wahlerfolge der NSDAP in der schleswig-holsteinischen Landbevölkerung, die Tätigkeit des ersten Präsidenten der Reichsschrifttumskammer Hans Friedrich Blunck, der aus der niederdeutschen Heimatbewegung stammte, die Vermarktung der Werke von Gorch Fock durch die Nazis - all das schreckte offensichtlich bis in die 1970er Jahre interessierte Kreise davon ab, sich mit diesem Kapitel ihrer Geschichte zu beschäftigen. Selbst der hier anzuzeigende Sammelband, der erstmals umfassend das Problemfeld von Nationalsozialismus und regionaler, niederdeutscher Kultur beleuchtet, legt noch Zeugnis ab von den Scheuklappen und Schwierigkeiten im Umgang mit der Geschichte.


Als Kasten:
Kay Dohnke, Norbert Hopster und Jan Wirrer (Hrsg.)
Niederdeutsch im Nationalsozialismus
Studien zur regionalen Kultur im Faschismus
Hildesheim: Georg Olms, 1994
554 S. mit 97 Abb., DM 126,-


Der vorzüglich mit Quellenmaterialien (Portraits, Faksimiles, Schutzumschlägen, Erlassen u.ä.) illustrierte Band faßt vierzehn Beiträge zusammen, die die unterschiedlichsten Aspekte des Themenkreises aufgreifen. Entstanden sind die Aufsätze teilweise aufgrund einer Autoren- und Verlagsinitiative, teilweise sind sie Produkt einer 1989 in Itzehoe stattgefundenen Tagung der Hamburger Vereinigung Quickborn sowie des Bevensen-Tagung e.V. Die lange Zeitspanne von Idee und wissenschaftlichem Kolloquium bis zur Publikation des Buches ist zum einen der Mitarbeiterfluktuation geschuldet, nicht zu letzt aber "Gründen eines vorgeblich methodischen Dissenses" - Zeugnis des immer noch nicht emotionsfreien Umgangs mit der Geschichte. Einige der unterschiedlichen Ansatzpunkte und moralischen Positionen werden in einzelnen Beiträgen deutlich, im letzten Aufsatz von Thomas Strauch werden diese in der niederdeutschen Philologie heimischen Gegensätze noch einmal systematisch (nach meiner Meinung stark schematisch) zusammengestellt. Zum Glück wurden die fünf Jahre von den Herausgebern genutzt, um - was leider in Sammelbänden immer seltener der Fall zu sein scheint - die einzelnen Beiträge in ihrer Form zu vereinheitlichen, auf exzellente Literaturverzeichnisse zu drängen, die Abbildungen zu besorgen, ein gründliches Vorwort zu verfassen und ein in diesem Fall wahrlich unentbehrliches Personen- und Sachregister dem Band anzufügen.

Alle Beiträge können in dieser Kurzrezension unmöglich vorgestellt werden, nur auf einige exemplarische Aufsätze soll hingewiesen werden. Eine vorzügliche Einleitung in das Thema bieten Konrad Köstlins "Bemerkungen zur Geschichte einer Beziehung". Auf volkskundlich-historischer Basis schildert er die Aufwertung des Plattdeutschen zum Niederdeutschen, die Heroisierung und Nobilitierung der ländlichen Lebensform. Der "alltägliche, sinnlich-sanfte Faschismus" wuchs auf diesem Nährboden und schaffte die Basis für die "redlichen und idealistischen Dilettanten, die wackeren und aufrechten Gelehrten und die feinfühligen Literaten, die, ohne selbst dazuzugehören, dem Vorfeld und Umfeld des Faschismus nicht ablehnend gegenüberstanden." Insgesamt ist das eine Einschätzung, die in den meisten weiteren Untersuchungen bestätigt wird. Wobei berücksichtigt werden muß, um den Stellenwert niederdeutscher Hoffnungen und plattdeutschen Engagements einschätzen zu können, daß der NS-Staat an "regionalen Bewegungen und regionaler Kulturpolitik wenig Interesse" hatte (zu diesem Ergebnis kommen Bert Hopster und Jan Wirrer in "Die Niederdeutsche Bewegung vor und nach 1933").

Kay Dohnke dokumentiert in seinen "Anmerkungen zur Verwendung des Niederdeutschen in nationalsozialistischer Agitation und Propaganda" einige plattdeutsche Reden und macht deutlich, wie schwierig es ist, genaues Quellenmaterial zu erschließen. In seinem zweiten Beitrag "Ik stäk dei Fahn ut" beleuchtet Dohnke akribisch die Verhaltensweisen einzelner niederdeutscher Schriftsteller, wobei er deren "Texte als sozial bedingte Stellungnahmen ihres Verfassers im Diskurs, die folglich immer auf deren jeweilige Stellungen im gesellschaftlich-politischen wie im künstlerisch-ästhetischen Bereich verweisen", begreift. In seiner detaillierten Vorstellung des Personals kommt er zum Schluß, daß der vorfaschistische Rückzug in die Welt des Bauern und seiner Scholle zwar in der faschistischen Literatur Aufnahme finden konnte, aber nicht jeder niederdeutsche Autor zu den Nazis überlief. In diesem Beitrag wird, trotz der Fülle des vorgelegten Materials, sehr deutlich, auf wie vielen Feldern noch geackert werden muß, um gültige Resultate in der Erforschung der NS-Kulturpolitik zu erhalten.

Zu diesem Komplex können die "Anmerkungen" von Gerd Spiekermann "zur Stellung des Niederdeutschen im nationalsozialistischen Rundfunk", von Dieter Andresen zu "Niederdeutsch und Nationalsozialismus in der Kirche" und schließlich von Bernd Jörg Diebner "Zur Rolle des Niederdeutschen in der deutschsprachigen Presse Nordschleswigs während der NS-Zeit" weitere Facetten beitragen. Der letztgenannte Beitrag weist auf die Nazifizierung der nordschleswigschen Presse hin, betont aber gleichzeitig das vernachlässigbare Gewicht des Niederdeutschen unter der ansonsten "Plattdänisch" sprechenden deutschen Minderheit in Dänemark.

Weitere Aufsätze behandeln regionalspezifische, sprachwissenschaftliche, methodologisch-theoretische Probleme sowie den Vergleich mit der regionalen Kulturpolitik im faschistischen Italien. Insgesamt ein vorzüglicher, materialreicher und in seinen teils kontrovers einander gegenüberstehenden Ansätzen ein zur Diskussion anregender Band, den man trotz seines Preises empfehlen kann.