© NORDEUROPAforum 1996.
Gültig und zitierfähig ist allein die Druckfassung.


GEWICHTIGE BILDER:

Nordeuropa

Mit fast zwölf Pfund Gewicht legt der Harenberg Verlag, bekannt für Mammutbücher, das wohl schwergewichtigste Buch zu Nordeuropa vor. Hält der Inhalt, was der Umfang verspricht?

Reinhold Wulff


Der bisher vor allem durch umfangreiche Chronikbände, Jahresbücher und bibliophile Ausgaben aufgefallene Harenberg Verlag versucht mit seiner neuen Reihe "Länder der Welt" auf dem bereits voll besetzten Markt der Reisebücher Fuß zu fassen. Dabei zielt man auf ein Publikum, das bereit ist, mehrere Hundertmarkscheine auf den Ladentisch zu legen, um ein farbenprächtiges, großformatiges (26 x 36 cm) Buch nach Hause zu nehmen, das die Belastbarkeit manchen Bücherregals auf eine harte Probe stellen dürfte.

Ewald Gläßer (Hg.), Max Galli (Fotos)
Nordeuropa
Dortmund: Harenberg, 1994
640 S., 575 Abb., DM 248,-

Der erste Blick in diesem Werk gilt natürlich den Fotos, fast 600 Farbfotografien von Max Galli beleuchten alle Aspekte nordeuropäischer Landschaften und Stimmungen, von architektonischen Schönheiten und menschlichen Antlitzen. Positiv von vielen anderen Bildbänden unterscheiden sich die Fotos hier, weil auch Menschen in ihren typischen Verrichtungen, Berufstätigkeiten und Gebräuchen gezeigt werden - oft werden in solchen Bildbänden ja nur Natur und Architektur eines Blicks gewürdigt. Die Bilder sind fast ausschließlich von einer beeindruckenden künstlerischen Qualität, insbesondere gefielen mir die ruhigen Detailaufnahmen von z.B. dem Osebergschiff oder von Verzierungen einer Stabkirche. Weniger geglückt erscheinen die manchmal bis ins kitschige hinein spielenden Landschafts- und Gebäudeaufnahmen (Lofoten, Dom von Lund), deren Farbeffekte wohl durch Filter und Druck überbetont wurden. Auch trägt das Großformat in Verbindung mit Papierqualität und Drucktechnik einige Mal zu einer störenden Grobkörnigkeit des Abbildes bei, so z.B. bei der Innenansicht des Herning Kunstmuseums. Auch wäre im Abbildungsbereich oft weniger mehr gewesen: Viele Naturmotive sehen sich zum Verwechseln ähnlich, manche Insel-, Fluß- oder Seestudie hätte man sich - im Interesse einer Preissenkung des Bandes - schenken können. Trotzdem: Die Fotos, oft doppelseitig, aber immer mit genügend weißem Rand, um Platz für knappe, aber ausreichende Bildlegenden zu lassen, sind insgesamt prachtvoll und ein Augenschmaus.

Schwieriger ist es dagegen, den Textteil zu beurteilen. Ebenso wie die Fototeile ist der Text in Blöcken nach Ländern geordnet, beginnend mit einer einführenden Gesamtübersicht über den Norden vom Herausgeber Ewald Gläßer. Alle Beiträge heben mit einer Beschreibung der geographischen Gegebenheiten an - ein übliches Herangehen, hier aber sich vor allem ergebend aus der Profession der Autoren, die alle Geographen sind.

Das Kapitel Nordeuropa als Ganzes ist mit zehn Seiten sehr knapp und trotzdem ergeben sich viele inhaltliche Doppelungen mit dem in den Länderberichten Gesagten.

Norwegen

Das zweite Kapitel, ebenfalls von Gläßer, beschreibt Norwegen - mit 32 Text- und 160 Bildseiten der umfangreichste Beitrag im Buch - eine Unausgewogenheit in der Berichterstattung über die fünf nordeuropäischen Staaten, für die keine Begründung gegeben wird. Wie in den anderen Kapiteln werden neben der Geographie Aspekte der Kultur, des Wirtschaftslebens und der Politik erläutert. Den umfangreichsten Abschnitt stellt dann allerdings jeweils die Vorstellung der landschaftlichen Regionen dar. Hier ist schade, daß Überschriften der dritten und vierten Gliederungsebene typographisch nicht voneinander unterschieden und nur wenig hervorgehoben sind. Beim Preis dieses Werks und dem sonstigen ästhetischen Anspruch hätte hier in der Herstellung etwas mehr Sorgfalt walten sollen. Trotzdem läßt dieser Abschnitt keine Wünsche offen, in aller Ausführlichkeit werden die wesentlichen Aspekte der Landschaften vorgestellt. Die anderen Abschnitte zu Politik und Kultur im weitesten Sinne leiden demgegenüber an ihrer Kürze; nichts ist falsch, aber bei einigen Punkten hätte ich weitere Erläuterungen erwartet, z.B. fehlt ein Hinweis auf die Unauflösbarkeit des stortings, in allen politischen Beiträgen fehlen grundsätzlich weitergehende Hinweise zur politischen Kultur, die sich z.B. in den vielen Minderheitenkabinetten ausdrückt und sich damit stark von deutschen Regierungbildungspraktiken unterscheidet.

Mit 31 Textseiten ist der Beitrag von Rolf Lindemann zu Schweden fast so lang wie der zu Norwegen, bringt es aber nur auf 63 Bildseiten. Hier wird der Irrtum im Einleitungsteil, daß Schonen 1660 zu Schweden kam, auf 1658 korrigiert - dieser Widerspruch hätte einem Lektorat auffallen müssen. Ebenso darf dem aufmerksamen Auge nicht entgehen, daß Lindemann auf S. 237 von einer dreijährigen Legislaturperiode, auf der folgenden aber von einer vierjährigen - der richtigen Dauer - spricht. Ein weiterer Widerspruch findet sich, wenn auf S. 238 die jetzige sozialdemokratische Regierung erwähnt wird, später auf S. 243 aber offensichtlich die bürgerliche Vorgängerregierung noch im Amt ist. In diesem Fall war wohl eine längere Bearbeitungszeit des Artikels Anlaß für entsprechende Diskrepanzen, grundsätzlich zeigt dieser Mangel, daß tagesaktuelle Fakten nicht in einen auf Dauer angelegten Band aufgenommen werden sollten, sie veralten zu schnell! (Bereits älteren Datums ist jedoch die Abschaffung der Autokennzeichen mit Bezug zum Meldeort, diese existieren bei Lindemann jedoch noch heute.)

Zwei Unsitten in Reiseführern tauchen auch in diesem feinen Band einige Male auf, nämlich etwas als wichtig oder schön zu postulieren, ohne zu sagen, warum es das sein soll ("Einer der bekanntesten Runensteine ist derjenige von Rök in Östergötland" - was aber zeichnet ihn aus?) oder beim Lesenden Hintergrundwissen vorauszusetzen, das doch gerade erst durch die Lektüre geschaffen werden soll ("Unvergessen ist auch das Engagement von Privatpersonen während des Krieges, etwa von Birger Forell, Graf Bernadotte und Raoul Wallenberg." Bei wem unvergessen? Und weiß jede Leserin, jeder Leser, was Birger Forell getan hat?).

Ekkehard Militz schildert im folgenden auf 24 Textseiten, illustriert mit 93 Fotoseiten, Finnland, Hanns-Joachim Kolb und Johann Schwackenberg auf knappen fünfzehn Seiten (65 S. Foto) Dänemark, Island folgt (23 S. Text, 53 S. Abb.), von Jörg-Friedhelm Venzke vorgestellt. Den Abschluß bilden (ohne Fotos) je ein Beitrag von Johann Schwackenberg zu den Färöern und zu Grönland. Diese beiden Aufsätze stehen etwas unmotiviert und unillustriert an dieser Stelle, als wenn man sie kurzfristig in das Werk mit aufgenommen hätte.

Schwerverdaulich

Für alle im letzten Absatz genannten Beiträge gilt das schon zu Gläßer und Lindemann oben Gesagte: Schwergewicht auf der Geographie, etwas unterbelichteter Blick auf Kultur und Politik, in diesen Teilen dann auch einige unpräzise, inaktuelle oder gar falsche Angaben. Für alle Länderbeiträge gilt auch, daß es den Autoren kaum gelingt, Abstand von ihrer Wissenschaftssprache zu nehmen. Sind die Fotografien farbenfroh, abwechslungsreich und meist souverän im stilistischen Umgang mit ihren Objekten, so vermißt man all dies in den Texten, die eher staubtrocken, inhaltsüberladen, manchmal syntaktisch mißlungen und mit Fachbegriffen gespickt sind.

Letzteres wirft die Frage auf, an wen sich der Verlag eigentlich wenden will? Ein wissenschaftliches Fachpublikum wird sich kaum von dem Verlagsnamen und der Bildervielfalt ansprechen lassen, für diese Klientel ist der Text insgesamt nicht tiefschürfend genug. Auch die Literaturangaben, die etwas wahllos zusammengestellt zu sein scheinen (eine ganze Buchseite zu Nordeuropa/Norwegen [!], darunter Unsägliches wie Gerhardt/Hubatsch Deutschland und Skandinavien, aber nur acht Titel zu Dänemark), genügen einer Fachfrau, einem Fachmann nicht. Für Neugierige auf den Norden wird der Band zu teuer sein, für Skandinavienenthusiasten zu trocken und langweilig geschrieben. Also nur ein Geschenkband für das Firmenjubiläum oder die Silberhochzeit? Der Harenberg Verlag wird auf eine größere Käuferschicht spekulieren - den Fotos wäre eine weite Verbreitung auf jeden Fall zu gönnen. Zu schade, daß der Text nicht auf ein Drittel, die Bilder auf die Hälfte und der Preis dann auf unter DM 100,- gekürzt wurde...